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Orquesta Típica Carlos Di Sarli


*07.01.1903  +12.01.1960

Status

El Señor del Tango

Aufnahmen:

393

Kaufen:

 www.tangotunes.de  für die 1930er, für 1939 bis 1948, für 1951-1954  (Music Hall) sowie ausgewählt als  LP-Transfers für Späteres.

Lektüre:

Michael Lavocah setzt mit seiner Monographie "Tango Masters - Carlos Di Sarli" natürlich Maßstäbe.

Corazón - 1939 - Rufino

Diskografie

Eine schöne Diskografie findet man bei La Milonga di Alvin



Merkmale:

schiebender Bass
dominante Streicher
Di Sarlis dunkles Klaviergrollen
Di Sarlis perlende Fills
Pizzikati

 

Stil:

romantisch, von Streichern getragen
Energiewellen

 

Größter Hit:

Corazón (1939/Rufino)
Al Compás del Corazón (1942/Podestá)
Organito de la Tarde (1954)
Bahía Blanca (1957/1958)

Wichtige Sänger:

Roberto Rufino  (1939-1944)

Alberto Podestá (1942 -1948)

Jorge Durán (1944 - 1956)

Óscar Serpa (1948-1955)

Mario Pomar (1951-1955)

Roberto Florio (1955 – 1956)

Bedeutende Musiker:

- Piano: Carlos Di Sarli
- Violine: Roberto Guisado, Bernardo Weber

- Bandoneon: Felix Verdi, Federico Scorticati, Ángel Ramos

Richard aus Holland erzählt uns über Di Sarli
Di Sarlis 3 Versionen der Cumparsita

 

 





Di Sarli zählt zwar zu den Großen Vier des Tango argentino, als einziger war er kein waschechter Porteño. Er stammte aus der Provinzstadt Bahía Blanca (weißer Strand).

Über 30 Jahre gestaltete er die Entwicklung der Tangomusik mit und begeisterte seine Fans mit dem für ihn so typischen kraftvoll zurückhaltend schiebenden Beat, an dem seine magische linke Hand am Klavier einen großen Anteil hat. Hier grollt es, jazzt es, hier tobt es, nur oberflächlich verdeckt von den wellenartigen Geigenmelodien, die sich darüber entfalten. Er zählt weder zu den am Rhythmus orientierten Traditionalisten noch zu den in der Tradition von Julio de Caro stehenden Avantgardisten, sondern entwickelte, beeinflusst von Osvaldo Fresedo, seinen eigenen romantischen Stil, dem er ein Leben lang treu blieb und der Anfänger wie Erfahrene gleichermaßen fordert und erfüllt.


... von Bahía Blanca

In der Hafenstadt Bahía Blanca, 600 km südlich von Buenos Aires, erblickte er als achter Spross einer italienischstämmigen Familie 1903 das Licht der Welt.

Die Mutter, selbst Pianistin, förderte früh den talentierten Knaben und legte den Grundstein für Di Sarlis klassische Klavierausbildung, Chopin, Liszt, Bach und Beethoven zählten zum Repertoire des Teenagers, Tango galt Anfang des 20. Jahrhunderts noch als Musik der Straße, und erst recht hier in der Provinz. Der Teenager schlug sich zum Teil alleine, zum Teil mit einem Trio als Pianist in Cafés und Stummfilmkinos durch, oft genug in abgelegenen Provinznestern, für Monate fern vom Elternhaus, und gründete schließlich in Bahía Blanca ein erstes eigenes Orchester. Tango spielte nur eine Randrolle.


... nach Buenos Aires

1923, des öden Provinzleben überdrüssig und mit einigen Tangos im Repertoire, setzte sich der Zwanzigjährige in den Zug und suchte sein Glück in Buenos Aires. Erst 1926, nach harten drei Jahren in wechselnden, wenig bedeutenden Combos gelang ihm der Durchbruch: Osvaldo Fresedo, Star der Upperclass, begeisterte sich für Di Sarlis liebliches und gleichzeitig kraftvolles Klavierspiel, Di Sarli konnte im Schatten Fresedos im gefragtesten Club der Stadt namens Abdullah das wichtigste der Orchester leiten, die der erfolgreiche Fresedo gleichzeitig unterhielt. Die Bewunderung für Fresedo schlug sich nieder in Di Sarlis Komposition Milonguero Viejo. (aufgenommen 1940).


1928 - Das erste Sextett

Nach jeweils kürzeren Engagements in sich jeweils neu formierenden Gruppen etablierte Di Sarli 1928 schließlich sein erfolgreiches erstes Sextett.

Weil Osvaldo Fresedo, bisheriger Star der Plattenfirma Victor, für längere Zeit mit seinen Musikern nach Europa ging und seine zahlreichen Orchester (es waren bis zu fünf) auflöste, konnte der ganz ähnlich klingende Di Sarli diese Lücke für sich nützen und sich sogar einen Platternvertrag bei RCA Victor sichern und im November 1928 erstmals ins Studio gehen. Der Durchbruch war geschafft, 48 Aufnahmen entstanden bis 1931, die mit dem schon erkennbaren charakteristischen Eigenleben der rechten und linken Hand des Pianisten Di Sarlis und ihrem schiebenden Bass noch heute Tanzende begeistern. (Lavocah geht davon aus, dass der Bassbereich durch die Positionierung des damals einzigen Mikrofones in der Nähe von Bass und Klavier noch mehr herausgehoben ist.)


Ernesto Famá, der gerade mit Fresedo aus Europa zurückgekommen war, verlieh den stärksten Stücken wie Chau Pinela (1930) oder Maldita (1931) die Stimme für den kurzen Estrebillista-Part, Santiago Devincenci singt Cicatrices (1930).

 

Flora - 1930 - Ernesto Famá

 

Exkurs: Fünf Versionen von Cicatrices

Cicatrices (Narben), 1925 für Carlos Gardel komponiert, besingt die wonnevollen Wunden, die Leben und Liebe hinterlassen.
Carlos Gardels Version (1925), begleitet von Gitarren, präsentiert den gesamten Text und ist ein klassisches Beispiel für Tango Canción.
Carlos Di Sarli würzt seine Estribillista-Version von Cicatrices (1930) mit einem von Santiago Devin gesungenen Refrain.
Den Cantor de Orquesta im klassischen Stil der Epoqua de Oro, der als Teil des Ensembles Strophen und Refrain singt, findet man bei Rodolfo Biagi (1940 mit Andrés Falgás) und Juan D’Arienzo (1942 mit Hector Mauré).
Das bezeichnenderweise unbekanntere Orchester Alberto Mancione begleitete 1952 den Sängerstar Jorge Ledesma.

 

Die Krise der Sextette 1930-1932

Ab 1930 verdunkelten nicht nur die Folgen des Schwarzen Freitags die Situation der Tangomusiker.
Mit dem Aufblühen des Tonfilms verloren die Tango-Sextette eine wesentliche Einkommensquelle, das Begleiten der Stummfilme. Gleichzeitig machten die Tonspuren importierter Filme internationale Musik populär. Colombia zog sich aus Argentinien zurück, kleinere Plattenlabels wie Electra (1930) und Brunswick (1932) gaben auf, die Mehrzahl der Musiker stand ohne Vertag und Beschäftigung da, und rannte, auf der Suche nach Arbeit, quasi im Rudel die Avenida Corrientes auf der Suche nach Arbeit auf und ab. Di Sarlis und seine Musiker überlebten eher schlecht als recht, Ernesto Famá wanderte zu Canaro ab.
Nach der Krise beherrschten RCA und ODEON den Markt als Duo-Pol, erst ab 1950 entstanden wieder zahlreiche neue Label (TK, Music Hall, ...)

Chau pinela - 1930 - Ernesto Famá
Lorena Tarantino - Gianpiero Galdi

 

1934 Di Sarli taucht ab

Aus unbekannten Gründen zog sich Di Sarli dann nach dem Karneval 1934 nach Rosario zurück. Seine Musiker traten mit dem nahezu gleichwertigem Pianisten Ricardo Cannataro weiter unter seinem Namen auf, der Name Di Sarli zog. Roberto Guisado, Di Sarlis lebenslanger Violin-Sidekick leitete das Orchester. Zwischendurch half der Mann mit der Sonnenbrille für einige Monate bei seiner alten Combo und in der einen oder anderen Formation aus oder versuchte sich als Filmmusiker für die Tangokomödie „Lindo Loco“.


Starorchester mit Sängerstars im Windschatten D’Arienzos

Ende der 30er-Jahre hatte sich die wirtschaftliche Situation wieder stabilisiert. Und dank D’Arienzos nervösen, energiereichen neuen Stils befand sich Buenos Aires im Tanzrausch, und auch Di Sarli mischte wieder mit.

Er formte Ende 1938 aus ehemaligen Musikern ein großes Orquesta Típica, Auftritte im neu eröffneten Cabaret Moulin Rouge und bei Radio El Mundo sicherten die Existenz.

Diese Musik ist schnell, zackig, nervös, sie klingt weit mehr nach D’Arienzo als nach Di Sarli. Und so entlockt Di Sarli D’Arienzo-typisch den Tasten luftig-nervöse Klavierfills und auch singende Geigen wie in „Racing Club“ (1940) finden sich in den Arrangements.

 

El Marianito - 1941 - Instrumental
Pablo Inza y Sofia Saborido - Buenos Aires - 2020
 

Typisch Di Sarli ist aber, und da wird er sich immer treu bleiben, das musikalische An-und Abschwellen in kleinen und großen Wellen und der weitgehende Verzicht auf Soli, sieht man einmal von den Tastenkunststücken des Meisters selbst ab, die er dem Klavier in wirklich allen Registern entlockt.

Noten notierte er nie, niemand sollte ihn kopieren können. Oft drehte er das Klavier so, dass seine Hände verborgen blieben.

Troilo kommentierte das Schaffen des eigensinnigen Mannes mit der Sonnenbrille rückblickend mit den Worten:
Er nahm das Geheimnis seiner Musik mit ins Grab.


Doch um in der ersten Liga mitzuspielen, fehlten noch wirklich überzeugende Sänger.

Roberto Rufino - der unreife Teenager-Superstar (1939-1943)

Die Lösung war ein Teenager von 17 Jahren, der seit seinem 14. Lebensjahr Publikum begeisterte und mit 16 im angesehenen Cafe National in Marathon-Sessions mit verschiedensten Bands auf der Bühne stand. Seine kraftvolle, ausdrucksstarke und trotz der Jugend reife Stimme überwältigte Di Sarli so, dass er das Casting nach wenigen Takten abbrach. Dass die Mutter den Vertrag unterschreiben musste, war noch das kleinste Problem, das sich das Orchester mit diesem jungen Star ins Haus holte.

Der Minderjährige musste sich bei Polizeikontrollen auf der Bühne verstecken oder erschien gar nicht, weil ihm der Zutritt zu den Cabarets noch verboten war. Di Sarli ließ ihn schließlich bei einem berühmten Schneider einkleiden und erhielt von einem befreundeten Richter eine Ausnahmegenehmigung für die Auftritte des Minderjährigen.

Der Durchbruch gelang 1939 mit Di Sarlis herausragener Komposition Corazón.



Corazón - 1939 - Rufino
Matteo Panero & Patricia Hilliges - Warschau - 2008

Rufino singt diese erste Aufnahme des neuen Orchesters mit beeindruckender Leidenschaft und Reife, ganz so, als ob er all den Herzschmerz schon zigmal selbst erlebt hätte. Nun war der Kleine ein großer Star, war ebenso reich wie unreif und stürzte sich neben der harten Arbeit ins wilde Nachtleben.

 

Di Sarli versuchte ihn väterlich zu begleiten, zu schützen, kleidete ihn standesgemäß mit geschneiderten Anzügen ein, musste ihn aber auch mal vom Fußballspielen auf der Straße auflesen, damit er die Proben nicht verpasste.

Di Sarli und Rufino zählten nun zu den ganz Großen, die Presse erkor Di Sarli zum König des Tango, zum wichtigsten Orchesterleiter des Jahres. In den folgenden Jahren erhielt er im Carneval die höchstdotierten Verträge, und seine Beliebtheit war nun so groß, dass er zum Stammorchester des Marabú, einem der großen, legendären Cabarets, aufstieg.


Zum Leidwesen des Orchesters glänzte allerdings der Teeniestar Rufino immer mal wieder durch monatelange Abwesenheit, sei es, weil er für Monate mit einem mittelmäßigen Orchester durch Chile zog, lieber für unbekanntere Orchester sang, weil ihm die Arbeit mit Di Sarli zu anstrengend war, und schließlich, weil der Zwanzigjährige auch noch zum Militär eingezogen wurde.

Di Sarlis weitere Sänger, Antonio Rodríguez Lesende oder Carlos Acuña, sind schon stark, konnten aber Rufino nicht das Wasser reichen, das Orchester brauchte dringend eine zweite, zuverlässige wie brillante Stimme, und dies um so mehr, als seit 1940 die Sänger sowohl innerhalb der Tangoarrangements als auch in der Gunst des Publikums immer wichtiger wurden.

 

Alma mía - 1939 - Vals - Rufino
Eleonora Kalganova and Michael Nadtochi - Halle - 2017

 

Ausenencia - 1940 - Augustin Volpe - Vals
Es lohnt sich, di Sarlis Klaverspiel zu lauschen. In den Valses und Milongas der 40er gibt er oft richtig Gas.

Alberto Podestá (1942-1944)

Auch Alejandro Washington Alé, so sein Taufname, startete seine Tangokarriere als Jungspund.

Aus der Provinz stammend versuchte er sein Glück als Kinderstar in der Hauptstadt, bis Miguel Caló den Siebzehnjährigen 1939 entdeckte. Mit der fünffachen Gage und dem Ruhm, den sein Orchester mittlerweile hatte, gewann Di Sarli den angehenden Star Ende 1941 für sich und verpasste ihm den Namen, mit dem er als einer der berühmtesten Sänger des Tango bis zu seinem Tod 2012 auf der Bühne stehen sollte: Alberto Podestá.

Und Alberto Podestá traf mit seiner romantischeren, ruhigeren Stimme genau den Geschmack der Zeit, der sich Anfang der 1940er-Jahre stetig änderte: D’Arienzos Nervosität war passé, die meisten Orchester arrangierten zunehmend romantischer, subtiler und komplexer und spielten langsamer. 

Entre pitada y pitada - 1942 - Podestá
Auch diese Milonga betört durch Di Sarlis Tasten-Formel-1

Sängerdivenzickenkrieg

Einerseits erlebte Podestá bei Di Sarli seine große Zeit. Der Meister kitzelte alles aus seinen Sängern heraus, wollte, dass sie mit Herz und Seele intonieren, ganz wie das Idol Gardel.

Podestá wurde reich, ihm gelangen große Hits wie „Al compás del corazón“ (1943).

Andererseits waren die Jahre an der Seite der unreifen Sängerdiva Rufino alles andere als unbeschwert, denn dieser duldete keinen weiteren Star neben sich und machte seinem Sängerkollegen das Leben schwer, wo er nur konnte, Er sicherte sich z.B. die besten Nummern oder stellte ihn auf der Bühne bloß. Di Sarli gelang es nur bedingt, den Zickenkrieg der beiden zu bändigen.

Zwar versuchte  Podestá nach 1944 sein Glück im neugegründeten Orchester von Enrique Francini und Armando Pontier, musste hier aber wieder die Bühne mit Rufino teilen und kehrte 1947 für zwei Jahre zum Señor del Tango zurück.

Al compás del corazón - 1942 - Podestá
Füße: Eleonora Kalgarova - 2015

Die anderen Sänger Di Sarlis

Jorge Durán (1945-1947)

Seine Stimme überrascht durch ihre Lage. Sein Bariton verbreitet mehr Ruhe als die Stimmen der im Tango sonst vorherrschenden Tenöre, passt aber gut zu den ruhigeren, romantischeren Stücken der zweiten Hälfte der 40er-Jahre wie Porteño y Bailarín, La vida me engañó oder Tu íntimo secreto (1945). Auch in den 1950ern kehrte Durán noch einmal zum Orchester zurück, ganz in der Mode der Zeit ist sein Gesang nun, genau wie der der anderen großen Sänger der Spätphase, Mario Pomar, Óscar Serpa und Roberto Florio, voller Schmalz, Pathos und Romantik.

 

1947: Carneval in Montevideo

Schon seit 1943 schnürten die autoritären Regime das kulturelle Leben ein, insbesondere das Verbot des Lunfardo, der argentinischen Tango- und Gaunersprache hinderte sowohl Texter als auch die Aufführungen.
Den Karneval 1947 verdingte sich Di Sarli daher in Montevideo und konnte für diese Konzerte neben Duran auch Alberto Podestá verpflichten und mit ihm auf der anderen Seite des Río de la Plata brillieren. Während Durán das Orchester verließ, hören wir Podestá zumindest auf den Studio-Aufnahmen, während nur Oscar Serpa neuer Sänger wurde.

 

Vieja Luna - 1945 - Duran
Michelle und Murat - Holland - 2008

 

In den späten Fünfzigern entstand das wunderbare Dinero Dinero mit Alberto Podestá. Podestá wanderte ständig zwischen den Orchestern hin und her.

Dinero - Dinero - 1947 - Podestá


Die wichtigsten Musiker

 

Roberto Guisado - Geige (19.11.1909 - 4.8.1975)

Der perfekt ausgebildete und schon erfahrene Geiger debütierte im November 1929 in Di Sarlis Sextett und sollte, von wenigen Unterbrechungen abgesehen, bis 1958 an der Seite Di Sarlis die erste Geige spielen. Er bildete ohne Zweifel den wichtisten Baustein innerhalb des saitenlastigen Soundkonzept des Klangtüftlers. Bis weit in die Siebziger Jahre hinein bereichterte er Orchester von Fresedo, Enrique Alessio oder Mario Demarco mit seinem präzis-warmen Ton. Und er war es sicher auch, der seiner Geige das Vogelzwitschern im Tango El Amanecer entlockte.

 

Bernardo Weber Geige(20.03.1913 - 11.6.1990)

Die unruhige Seele spielte in so unterschiedliche Formationen wie Juan Maglio, Francisco Canaro, Àngel D'Agostino, Julio de Caro, um schließlich 1951 Teil von Di Sarlis neuem Orchster zu werden, bis er 1956, wie die meisten, mit den Señores de Tango eigene Wege ging. Später finden wir ihn bei D'Arienzo, Racciatti - und mit verschiedenen Formationen insgesamt neun Mal in Japan. Als sehr unsteht lebender Junggeselle scheint ihn die Reiserei gereizt zu haben.

 

Félix Verdi (30.04.1909 - 29.05.2003)

Er leitete über viele Jahre die Bandoneon-Sektion. Auch wenn er sich völlig mit Di Sarlis Stil identifinzierte, trennte er sich mehrmals im Streit vom Meister, war aber auch derjenige, der mit Di Sarlis extremen Ansprüchen und harschen Wutausbrüchen am Besten umgehen konnte, weil beide sich doch als Freunde verstanden. Trotzdem verließ er 1956 mit den meisten anderen Musikern Di Sarli und war erfolgreich bei den Señores del Tango mit von der Partie.

 

Der Musiker Di Sarli

Während Di Sarlis berühmte linke Hand mit einem grollende Schieben den Puls des Orchesters definiert, füllt er mit der rechten in allen Registern mit  frischen, spritzigen, romantischen, jazzigen Fills Lücken oder legt sich über den vom Orchester kreierten Klangteppich. Und jeder Ton, jede Phrase scheint dabei uns Tanzende zu inspirieren.
Eigentlich hat nur Di Sarlis Klavier Freiheiten, er setzt Synkopen und Akzente, die anderen Musiker schaffen den Rahmen.


Mufa

Ein Mufa ist in Argentinien einer, der Unglück bringt. Und Di Sarli galt so manchem als Mufa.

 

Die Sonnenbrille

Schon, dass er öffentlich immer eine Sonnenbrille trug, förderte seinen Ruf als unnahbarer, etwas schwierige Einzelgänger. Dabei verbarg die Sonnenbrille nur eine Augenverletzung, die sich der Teenager schon 1916 bei einem traumatischen Unfall in der Waffenschmiede des Vaters zuzog: Ein versehentlich ausgelöster Schuss hatte das rechte Auge zerstört.

Eigentlich war der Señor del Compás ein herzensguter Mensch, er behandelte seine jungen Sänger väterlich, er liebte seine beiden Töchter über alles und spendete, so berichtet Michael Lavocah, ein Viertel seiner Einkünfte an bedürftige Minderjährige.

 

Eine schwierige Persönlichkeit?

Doch gleichzeitig eckte er mit seiner kompromisslosen Art oft an. Während der vielfach unerbittlichen Proben verlor er oft die Geduld, brach in Wutanfälle aus und zeigte wenig Verständnis für die Probleme seiner Musiker.

Und die Tangocommunity nahm es ihm übel, dass er 1944 aus übertriebenem Stolz die gagenfreie Teilnahme an einem Benefizkonzert für ein schreckliches Erdbeben mit 10.000 Toten verweigerte.

 

Shitstorm gegen Di Sarli

Weit rufschädigender war, dass sich Di Sarli 1948 mit seinem Bühnenansager überwarf.

Julio Jorge Nelson war ein beliebter Radiomoderator, der mit seiner Radiosendung, in der er nur Tangos von Gardel spielte, den Grundstein für dessen heiligengleiche Verehrung gelegt hatte. Aus Rache verbreitete Nelson nach dem Bruch überall, dass Di Sarli ein Mufa sei, er brandmarkte den Namen Di Sarlis als unaussprechlich, nannte ihn nur den Blinden Mann, überzeugte Filmproduzenten, nicht mit Di Sarli zu arbeiten und war, weil Di Sarlis Ruf sowieso nicht der beste war, mit seinem Mobbing durchaus erfolgreich.

 

Zweite Tauchstation 1949 - 1951

Nachdem Di Sarlis Musiker, motiviert durch von Peron lancierten neuen, arbeiterfreundlichen Gesetzen, bessere Arbeitsbedingungen einforderten, löste Di Sarli nach dem Karneval 1949 sein Orchester entnervt auf, zog sich zurück und intensivierte sein zweites berufliches Standbein, die Immobilienmaklerei.

 



Comeback – der reife Di Sarli

Im Januar 1951 gelang es dem Direktor von Radio El Mundo, den Maestro wieder auf die Bühne zu locken.
Nach einem großartigen Comeback-Konzert bei Radio El Mundo füllte das erneut mit herausragenden Musikern gespickte Orchester, das nun fünf Bandoneons und sechs Geigen umfasste, wieder Radiosendungen, Cafés und Cabarets.

Singende Frontmen waren Óscar Serpa und Mario Pomar. In den folgenden Jahren spielte Di Sarli vieler seine alten Hits bei verschiedenen Plattenlabels neu ein. Seine Popularität war ungebrochen. Organito de la Tarde, aufgenommen im August 1954, verkaufte sich über zwei Millionen Mal!, Klassiker wie El ingeniero oder das von Di Sarli komponierte BahÍa Blanca, das als Essenz seines Schaffens gilt, inspirieren Tänzer zum eleganten Schreiten und  begleiteten Generationen von Tangoschülern beim Erlernen der Grundschritte.

 

 

El Señor del Tango

Erst in diesen Jahren, 1953, erhielt Di Sarli seinen Spitznamen. Antonio Cantó, der Di Sarlis Auftritte ankündigte, führte den charakteristischen Titel El Señor del Tango ein und erfasste damit sehr treffend die Reife und Eleganz der Musik des späten Di Sarli.

 

 

Das letzte Orchester

1956, kurz vor der Karnevalssaison, verließen nahezu alle Musiker Di Sarli und gingen als Los Señores del Tango – mit nahezu gleichem Sound – eigene Wege.

Di Sarli fing zwar quasi wieder bei Null an, kommentierte aber im Radio die Situation mit den Worten:

Wo ist das Problem, es gibt ja noch den Pianisten.
Seine Musiker sollten spielen, was notiert sei, er mache dann schon den Stil.


Mit der Violin-Legende Elvino Vardaro sowie Musikern des Symphonie-Orchesters sowie späteren Stars der Tango-Szene wie José Libertella (später Sexteto Mayor), Julián Plazá oder Alfredo Marcucci, der nach 2000 noch auf vielen Festivals ins Europa zu hören war, stellte er binnen weniger Wochen sein letztes, wieder herausragendes Orchester auf die Beine, das mit seinen sieben Geigen einen unvergleichlich strahlenden Sound verbreitet und von der Zeitschrift Cantando 1957 zum Tango-Orchester des Jahres gekürt wurde. Sänger waren als Übergang zunächst Rodolfo Galé und Argentino Ledesma, bis sich Jorge Dúran und Roberto Florio 1956 als überzeugendes Sängerpaar der letzten beiden Jahre etablierten.

 

Das Ende

Di Sarlis letzte Monate waren von einem schmerzhaften Krebsleiden geprägt. Und dennoch erfüllte er mit der ihm eigenen Disziplin alle noch bestehenden Auftrittsverträge, auch wenn sein Körper dabei fast schon versagte.

 


Di Sarli für Tanzende – von großen und kleinen Wellen

Di Sarlis Aufnahmekarriere erstreckt sich über drei Jahrzehnte von 1927 bis 1958.
Das Erstaunliche: Fast alles ist tanzbar, und fast alles, von der ersten Aufnahme an, klingt nach Di Sarli.

Die Aufnahmen des Sextetts, Titel der Jahre 1939-1948, die Einspielungen bei Music Hall sowie eine Auswahl später Aufnahmen der 50er finden sich vorbildlich restauriert in Golden Ear-Qualität bei  www.tangotunes.com



 

Das erste Sextett 1927 -1931

Diese 48 Titel beeindrucken bis heute, man hört sie immer noch auf Milongas.

Schon das wunderbare Soy un Arlequín (1929), aber auch Añorandote (1930) oder Cicatrices (Santiago Devincenzi, 1930) beeindrucken mit einem schiebenden, rhythmischen Grollen des Klaviers in den tiefen Registern, das Di Sarlis berühmte linke Hand mit wuchtigen Schlägen aus den Tasten lockt, sodass ein Sound entsteht, der fast ein wenig den Yumba-Rhythmus Puglieses vorwegnimmt. Schon damals sind Solos rar, schon damals dominieren die Geigen.

Soy un arlequin - 1929 - Intrumental
Tzu-Han Kyoko - Tokyo - 2021
Rosamel - 1930 - Santiago Devincenzi -Vals
Murat Erdemsel and Mariana Galassi - New York - 2005

 

Maldita - 1931 - Ernesto Famá

 

Zackige Tangos, Valses und Milongas 1939 – 1941

 

Instrumentale

Rasante Instrumentalnummern wie El Retirao (1939), Catamarca oder Shusheta (beide 1940) treiben Tanzende mit jeweils von ganzen Instrumentengruppen im Tutti gespielten Stakkato- und Legatophrasen, zwischen die Di Sarli sein wuchtiges Klavierspiel platziert.

Tempo-Tango mit Rufino

Ähnlich temporeich und voller rhythmischer Finesse und Dynamik entfalten sich über dem charakteristisch schiebenden Bass die vokalen Feger Rufinos wie Corazón (1939), Lo pasado, pasó, Volver a soñar (1940) Cascabelito  oder Charlemos (1941)

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Ta Trilla
Andres Sautel e Celeste Medina - Padua - 2017
Elegant und energetisch wandeln die beiden die Wucht Di Sarlis in eine Choregrafie, die die Schubkraft dieser Musik lebendig werden lässt.

 

 

Catamarca

Eleonora Kalganova and Michael Nadtochi – Berlin 2018

Lo pasado, pasó - 1940 - Rufino
Fernando Sanchez & Ariadna Naveira - Lyon - 2019
Volver a sonar - 1940 - Rufino
Fausto Carpino et Stephanie Fesneau - Montreal - 2012
Cascabelito - 1941 - Rufino
Javier Rodriguez - Noelia Barsi - 2022
Javier Rodriguez - Noelia Barsi



 

Vals-Karrussels

Aber auch die Vals-Hits dieser Jahre wie Alma mía (1940), Cortando Camino (1941) oder Ausencia (1941), die einzige Aufnahme mit dem Sänger Agustín Volpe, klingen mehr nach D’Arienzo als nach Di Sarli. In der Folge nahm Di Sarli kaum noch Valses auf - und die wenigen sind mit einem Tempo von meist um die 60bpm so langsam wie Canaros Schleicher, strahlen allerdings vor allem wegen Di Sarlis außergewöhnlichem Tastentheater eine ganz andere Energie aus. Auch Milongas verschwinden nach 1943 nahezu vollständig aus dem Repertoir.

 

 
Alma Mia
– Nadtochi – Halle 2017




Cortando camíno, 1941 - Roberto Rufino
Estampa federal - 1942 - Alberto Podestá

... und Trippel-Milongas

Dies gilt auch für die Uptempo-Milongas Milonga del Centenario (1940), Zorzal und Pena mulata (1941), oder die Milonga del Sentimiento (1940). Hier lässt Di Sarli seinem musikalischen Temperament ungehemmt freien Lauf und entlockt dem Piano feuerwerksartig explodierende Tastensalven. Genial, wenn auch nur beschränkt tanzbar.

Gelungen sind auch Entre pitada y pitada (1942)

Zorzal
Celeste Medina and Andres Sautel – Berlin 2018

Pena Mulata
Oscar Beltran & Victoria Laverde - 2019
La mulateada -
Corina Herrera and Pablo Rodriguez – La mulateada



 

Romantisches aus den goldenen Jahren des Tango 1942 - 1944


Während die vorangehenden Jahre von der Orientierung am Rhythmus geprägt waren und die Musik der Jahre nach 1945 Tanzenden teilweise etwas wenig Halt gibt, haben die Hits dieser wenigen Jahre die perfekte Balance zwischen der stetig zunehmenden musikalischen Komplexität und Finesse und dem für Tänzer notwendigen berechenbaren Beat.

 

Nada - 1942 - Podestá
Cecilia Piccinni and Ricardo Biggeri - 2015 - Prag

 

Romantisch-Weiches mit Cantor de orquesta

Alberto Podestá gestaltete Klassenschlager wie Al Compás del Corazón (1942), Junto a tu corazón (1942) oder Nido Gaucho (1942) mit romantischerer Phrasierung, aber auch in Rufinos ruhigeren Hits wie Zorro plateado, Verdemar oder Todo (1943) hat nun Raffinesse die Nervosität der früheren Jahre verdrängt.


1947 geht Podestá noch einmal mit Di Sarli ins Studio, schöne Resultate sind Déjame, Dinero ...  Dinero und Soy aquel viajero,


Viel Kraft und Schmalz vereinen die Tangos mit Jorge Duran wie Porteño y bailarín , Hoy al recordarlaund La vida me engano

 

Instrumentale

Einige Instrumentale dieser Jahre, insbesondere das wunderbare Ensueños (1943), enthalten schon alle musikalischen Elemente, die Di Sarli bis zum Ende seiner Karriere stufenweise immer weiter verfeinern wird: die alles dominierenden Geigen, die gemeinsam an- und abschwellend Melodie und Rhythmus in langen und kurzen Wellen modulieren und dabei von sehr zurückhaltend spielenden Bandoneons unterstützt werden, während Di Sarlis Klavierspiel mal darunter, mal dazwischen wuchtig grollt oder leise perlend zwischen die Phrasen plätschert.

 

Ensueños - 1943 - Instrumental
Janina Sprenger & Thomas Patrick - Berlin - 2020

 
La capilla blanca
Stephanie Fesneau and Fausto Carpino

 

Junto a tu corazón
ERICA BOAGLIO & ADRIAN ARAGON - Catania 2020

 

Tu, El Cielo y Tu - 1944 - Podestá
Berk Uka & Gözdenur Çavuş - Türkei - 2019


Das Spätwerk

Viel Energie steckt in den Aufnahmen beim Label Music Hall 1951-1954.

1951 kehrte Di Sarli zurück in die Tangowelt. Angelockt von der Möglichkeit, LPs zu produzieren und international erfolgreicher sein zu können, spielte er vor allem instrumentale Hits der Vierziger neu ein.
Die instrumentalen Aufnahmen von 1951 bis 1954 beim argentinischen Plattenlabel Music Hall sind Di Sarli pur, geschliffener als das Material der 40er, aber lebendiger und für Tänzer inspirierender als die klanglich vollendeten Klassiker voller subtiler Magie, die bei RCA Victor entstanden, nachdem Di Sarli aus Qualitäts- und Vertriebsgründen 1954 zu seinem alten Label zurückgekehrt war.

El Recodo

 

El Amanecer - 1951
Der mit dem Vogelgezwitscher

Die Essenz von Di Sarlis Musik: Bahia Blanca

Bahia Blanca, Di Sarlis Heimatstadt, liegt am Meer, mit den Wellen wuchs er auf. In großen Wogen strömt und flutet diese Musik. Insbesondere die Streicher intonieren musikalisch diese Wellen, und schaffen gleichzeitig mit Pizziccati präzise, rhythmische Muster, die die Bandoneons, in anderen Orchestern das Zentrum des Beates, nur unterstützen, anstatt selbst mit Arrastres Energie zu erzeugen.

 

Bahía Blanca - 1958 - Instrumental
Mariano "Chicho" Frúmboli y Juana Sepúlveda - Brüssel - 2016

Der späte Stil

Di Sarli nahm viele seiner klassischen Instrumentalen wie El Amanecer, Germaine, A la gran Muñeca, Don JuanEl Ingeniero, Viviani,  immer wieder auf, manches sogar innerhalb weniger Monate, da er Mitte 1954 von Music Hall wieder zurück zu RCA Victor wechselte. Die Sarli bleibt sich im Stil treu, doch der Sound, die Textur werden noch geschliffener, voller, leuchtender, aber auch glatter und geschmeidiger, sodass, zumindest für Tanzende, frühere Versionen von größerem Reiz sind.

Rodriguez Peña - 1956 Instrumental
Michael 'El Gato' Nadtochi & Elvira Lambo - Moskau - 2022
El Ingeniero - 1955 - Instrumental
Vanesa Villalba and Facundo Pinero - Lissabon 2022

Cara Sucia (1952) und Corazón (1955, Mario Pomar) sind treibender und voller Energie.

Cara Sucia (=Drecksvisage) - 1954 - Instrumental
Murat and Michelle - Austin - 2012

Organito de la Tarde (1956), aufgenommen mit der neuen Combo voll mit grandiosen Musikern, avancierte zum Superhit mit über 2 Millionen verkauften Schellacks.

In der zweiten Hälfte der Fünfziger wurde der Stil noch brillanter, reifer, 1958 nahm Di Sarli noch einmal 14 Tangos für  Philipps auf, nachdem er sich, wegen eines Streits mit einem Toningenieur, mit RCA Victor überworfen hatte.

Organito de la Tarde - 1954
Eleonora Kalganova brilliert !! mit Michael Nadtochi - Griechenland - 2017

Schmalzig-triefende Geigenteppiche und langgezogene Tenor-Tiraden (1954-1958)

Die doch sehr schmalztriefenden und sehr langsamen vokalen Tangos dieser Jahre versüßen selten eine Milonga, sieht man von Klassikern wie No me Pregunten Porque (1955, Mario Pomar), Y todavia te quiero, Fumando Espero (Feb 1956: Argentino Ledesma; April 1956: Roberto Florio) oder Novia Provinciana (1956, Argentino Ledesma) ab.

 

Fumando Espero - 1956 - Argentino Ledesma
Dana Frigoli and Adrian Ferreyra - Berlin - 2016
Mi novia provinciana -
Manuela Rossi & Juan Malizia - Japan - 2015
Cantemos Corazón - 1956 - Roberto Florio
Maria Filali - Gianpiero Galdi