HOME       www.tango-dj.eu (Hauptseite)




Die Orquesta tipica
Direktoren - Musiker - Stile - Geschichten
ausgewählte Tangos für Tänzer
von   OLLI   EYDING   (München)



Francisco Canaro - Julio de Caro - Juan D'Arienzo - Miguel Calo - Osvaldo Fresedo - Anibal Troilo - Osvaldo Pugliese - Lucio Demare - Alfredo de Angelis - Florindo Sassone -

Home

Francisco Canaro (Pirincho)
28.11.1888 - 14.12.1964

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 69 -  01/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

Spitzname:
Pirincho
Status:
Tango-Unternehmer
Anzahl der Aufnahmen:
über 3.700
Stil:
Verspielter Traditionalist
Merkmale:
rhythmisch, Klarinette und Trompete
Spezialität:
Valses, Milongas und viel mehr
Größter Hit:
Poema (1935)
Wichtige Sänger:
Charlo, der 'zweite Gardel' (1929-1932) Antonio Maida, samtig und weich (1934-1938)

Bedeutender Musiker:

Minotto Di Cicco (Bandoneon)


Biografisches

Francisco Canaro ist der erfolgreichste Tangomusiker Argentiniens und repräsentiert wie kein zweiter den Aufstieg des Tango aus den Armenvierteln von Buenos Aires ins Herz der argentinischen Gesellschaft. (...) Der ebenso musikalische wie geschäftstüchtige Sohn italienischer Einwanderer leitete gleichzeitig bis zu vier Orchester, produzierte Musicals und Filme und schuf ein Tango-Imperium, das ihm und seiner Familie zu Wohlstand verhalf. Besonders Europäer lieben die Harmonie und Eingängigkeit seiner Musik. Anderen Tänzern sind seine Stücke dagegen rhythmisch zu vorhersehbar. So belegte Canaro in einer Umfrage des italienischen Tango-DJs 'Supersabino' unter 80 Kollegen auch den ersten Platz bei der Frage nach dem „am meisten überschätzten Tango-Orchester“. In jedem Fall spielte der 'Kaiser', wie er von vielen wegen seiner Wucht genannt wurde, auf den großen Karnevalsbällen, im Radio, im Theater, bei Tango-Musicals und -Komödien fast immer die erste Geige.
(...)
Die Canaros, eine vielköpfige Emigranten-Familie mit italienischen Wurzeln, lebten in Buenos Aires in größter Armut in einem einzigen Zimmer eines Conventillos.
(...)
In La Boca, dem Hafen- und Vergnügungsviertel im Süden der Stadt, erspielten sich Canaro und sein Trio 1908 ein erstes Engagement im angesehen Café Royal. (...) Der Einwanderersohn war auf jeden Fall im Herzen des Tango angekommen und prägte fortan den Pulsschlag der neuen Musik entscheidend mit. Als Geiger in Vincente Grecos Sextett war er dabei, als 1910 die ersten Aufnahmen mit einem Tango-Orchester entstanden. (...) 1914 hatte Canaro sich so weit etabliert, dass er mit seiner eigenen Combo auf dem bekannten Medizinerball Baile del internado im berühmten Palais de Glace auftrat.
(...)

Der Innovator

Immer auf der Suche nach Neuem bereicherte Francisco die musikalische Welt in den 20er- und 30er-Jahren. Er etablierte den Bass als Instrument der Orquesta Típica (1916), ab 1920 beauftragte er einen Arrangeur und trug dazu bei, die Einfachheit der Guardia Vieja zu überwinden. Er bereicherte Ende der 20er-Jahre die bis dahin instrumental gespielten Tangos um den Estribillista (Refrain-Sänger), später setzte er als erster eine Sängerin sowie ein Gesangsduo ein. 1933 überrasche er die Tänzer mit einer von einem richtigen Tango-Orchester gespielten Milonga, die heute noch berühmte Milonga Sentimental (1933) und begründete damit ein ganz neues Genre.
Klarinettentöne und der Sound des Cornetino, einer kleinen Trompete, schufen das für Canaro typische klare, helle und fröhliche Klangbild, der Griff zur Orgel in den 40ern überzeugt dagegen weit weniger, manches klingt dann doch nach Jahrmarktmusik.

Tangos, Valses und Milongas:
Canaros musikalisches Schaffen erstreckt sich über fast fünf Jahrzehnte. (...) Während in Argentinien vor allem seine Milongas, z.T. auch die Valses, aber weniger seine Tangos gespielt werden, schätzen europäische Tänzer und DJs weit mehr seine auf einem klaren Beat aufbauende Verspieltheit.

König der Milonga
Die erste Milonga, die jemals eingespielt wurde, die Milonga Sentimental (1933), zählt wie viele andere Milongas von Canaro zu den Lieblingen der Tänzer. Sie zieht ruhig, berechenbar und dennoch abwechslungsreich dahin, eine Phrasierung mit Traspiés bietet sich wie von selbst an. Dies gilt auch für die etwas flotteren Klassiker No hay tierra como la mía (1939) oder Parque Patricios (1940) mit dem Sänger Ernesto Famá.

Festlicher Dreivierteltakt
Viele seiner Valses sind große Hits. Zum Teil als Wiener Walzer phrasiert, verführen sie zum Schwelgen, bieten erfahreneren Tänzern aber nicht immer genug Interpretationsanregungen. Hierzu zählen Klassiker wie Corazón de Oro (1938 sowie 1951 mit dem berühmten Chor) oder Soñar y nada más (1943). Wunderschöne, aber sehr langsame Valses wie z.B. Ronda del Querer (1934) sind nicht jedermanns Geschmack. 150 Valses presste der Walzer-König auf Schellack, manche wie El día que te fuiste (1940) strotzen vor Energie.

Tangos für alle
(...) Zackig-Energiereiches aus den frühen 30ern, z.B. Dos Amores (1932) mit dem Sänger Ernesto Famá, gesellt sich zu romantisch-verspielteren Kleinoden wie Poema (1935) mit der samtig weichen Stimme Roberto Maidas. Die große Experimentierfreude Canaros hört man sehr schön in Qué es lo que tiene la Bahania (1939), einem ursprünglich brasilianischen Song. Cornetino, Klarinetten- und Bandoneon-Klänge prägen die ersten, leisen Takte, ein fröhlich phrasierter Beat lockt den Tänzer in das abwechslungsreiche Arrangement des Hauptteils, in dem Instrumentierung und Rhythmisierung ständig wechseln. Als Sahnehäubchen werden noch Choreinwürfe übergestülpt. Die Darbietung ist frisch, sehr abwechslungsreich, der Phrasierung fehlt aber ein wenig das Subtile. Typisch Canaro eben.



Home


Julio De Caro -
Tango ist auch Musik


Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 70 -  02/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

Status:
Tango-Revolutionär
Anzahl der Aufnahmen:
rund 420
Stil:
komplex, dynamisch, rhythmisch, verspielt, expressiv
Merkmale:
frisch und überraschend, manchmal sperrig
Spezialität:
ausdrucksstarke Violinsoli
Größte Hits:
El Monito (1928) , Boedo (1928), Tierra Querida (1927), Saca Chispas (1938, Milonga)
Wichtige Sänger:
Luis Díaz
Héctor Farrel

Bedeutender Musiker:

Alle: Vier Musiker der Stammbesetzung, Pedro Laurenz und Pedro Maffia sowie Julio und Francisco de Caro wurden noch 1936 von den Lesern der Zeitung Sinfonía für das Allstar-Orchester Los Vírtuosos als beste Musiker ausgewählt.


Man schreibt D’Arienzo zu, dass ohne ihn die grenzenlose Tanzbegeisterung der 40er-Jahre, die die Existenz vieler Orchester erst ermöglichte, nicht stattgefunden hätte. Ohne die musikalischen Innovationen, die das Sextett von Julio de Caro in den 20er-Jahren entwickelte, wäre der Tango ein anderer, ohne De Caro würden Demare, Laurenz, Troilo und Pugliese anders klingen. (...)

Die Brüder De Caro bereicherten den Tango mit ihrer vorzüglichen musikalischen Ausbildung. Sie wollten der Welt, und wohl auch ihrem Vater, beweisen, dass Tango nicht nur ein Tanzrhythmus ist.

Zwischen 1918 bis 1923 spielten sowohl Julio als auch Francisco in wechselnden Besetzungen bei den besten Musikern der Zeit, mussten sich aber oft genug auch mit Gelegenheitsjobs zufriedengeben. (...)
 
Mit ihrer Musik, aber auch wegen ihres eleganten Auftretens in Smoking mit Fliege verhalfen sie dem Tango zu noch mehr Anerkennung. Die Truppe war nun so populär, dass auch noch Leopoldo Thompson, damals der innovativste Bassist, zu ihnen stieß. Sie sollten die musikalische Entwicklung der nächsten Jahre prägen.
(...)

Zwischen Ende 1924 und Ende 1928 pressten sie knapp 140 Nummern auf Schellack, damals entstanden Kompositionen wie Copacobana (1927), Amurado (1927), Tierra Querida (1927), Mala Junta (1927), El Monito (1928) oder auch Boedo (1928), auch Puglieses grandioses Recuerdo (1926) gehörte zum Repertoire.

In der großen, weiten Welt
1931 machte sich das Sextett auf nach Europa. (...)

Durch ihr elegantes, distinguiertes Auftreten befreiten sie den Tango von dem folkloristischen Pampa-Image, das ihm bisher anhaftete. (...)

Als die Musiker 1932 aus Europa zurückkehrten, fanden sie weit schwierigere Bedingungen vor. Durch den Einzug des Tonfilms verloren die Tango-Sextette der 20er Jahre eine wesentliche Einnahmequelle, die Wirtschaftskrise in Folge des Schwarzen Freitags von 1929 tat ihr übriges. Trotz des schwierigeren Umfelds vergrößerte De Caro sein Orchester und experimentierte weiter. Mit einer Show zur Geschichte des Tangos, die noch mit Step-Tänzern aufgepeppt war, feierte er 1932 im ganzen Land große Erfolge.
(...)

Mit wilden Arrangements und ungewohnten Instrumentierungen weiteten die Brüder die Grenzen des Genres aus. Gut hört man diese reiche Instrumentierung in der wilden Milonga De Contrapunto (1936).


Ende der 30er Jahre folgten auch die Brüder De Caro dem von Juan D’Arienzo angestoßenen Trend und spielten traditionellere, gut tanzbare Musik.
In der populärsten Phase des Tanzbooms gelang es dem Orchester nur teilweise, die Trends der Zeit publikumswirksam umzusetzen. Insbesondere die neue Bedeutung des Sängers in den 40er-Jahren konnte der Instrumentalist de Caro nicht überzeugend aufgreifen. (...)

Die Innovationen
Warum strömten die Fans Ende der 20er Jahre ins Stummfilmkino Select Lavalle, um das Sextett zu hören, ganz egal welcher Film gerade lief? Warum musste das Sextett dasselbe Stück immer wieder spielen, weil das Publikum so begeistert war?
(...)

Die Kompositionen, die Arrangements, der Einsatz der einzelnen Instrumente waren komplexer, verwobener. Das Sextett übte und probte und feilte unermüdlich. Alles drehte sich um ihre Musik, Julio und Francisco De Caro sowie Pedro Maffia wohnten sogar zusammen.

Exzellente Musiker
Nur durch ständiges Experimentieren und Verbessern erreichte das Sextett die bisher nicht gehörte Dynamik, ein gemeinsames An- und Abschwellen und kunstvoll eingebaute Rubatos, also Verzögerungen und Beschleunigungen. (...)

Neue Spieltechniken
Nicht nur Leopold Thompson am Bass entwickelte neue, perkussive Spieltechniken wie das Schlagen mit dem Bogen, das Streichen über den Bassrücken oder das Klatschen und Trommeln auf dem Basskörper, alle sechs Musiker entlockten ihren Instrumenten möglichst viele Effekte, die man yeites nennt.
(...)

Der Tango der Brüder De Caro ist bei allem musikalischen Anspruch gleichzeitig immer sehr lebendig und verspielt. Man entdeckt in den Aufnahmen gemeinsames Lachen, Brüllen und Pfeifen, das Jammern einer Säge und sogar Korkenknallen.

De Caro für Tänzer
Tangos
De Caro spielte seine Instrumentalklassiker wie Tierra Querida, Boedo, El Monito, Mala Junta oder Copacobana jeweils dreimal mit ganz unterschiedlichem Charakter ein: zunächst Ende der 20er-Jahre voller musikalischer Ideen, dann energiereich und wild um 1940 und noch einmal glatter nach 1950. Nach 1936 entstanden schnelle Tangos voller Swing mit den Sängern Héctor Farrel und Luis Díaz wie Fuego (1938), 1937 (1938) und Mariposa (1940)

Milongas
Sacas Chispas (1938) und De Contrapunta (1936) sind ausgefallene Milongas mit ungewöhnlichen Arrangements, auch die Interpretation des Klassikers No hay Tierra como la mia (1939) ist beeindruckend.

Valses
Sorpresa de novia, Celoso por ti, Esmeralda treiben Tänzer mit viel Energie durch die Ronda!



Home



Juan D'Arienzo

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 71 -  03/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.


 
  
 *14.12.1900  +14.01.1976
    Spitzname: Rey del Compás
    Status: Rhythmusmaschine
    Anzahl der Aufnahmen: rund 1000
    Stil: voller Energie und akzentuierter Rhythmen
    Merkmale: kraftvolles Klavier, Geigensoli auf der tiefsten Saite
    Spezialität: Valses, Milongas und vieles mehr
    Größter Hit: La Cumparsita (1943) Diese Schellack mit der Milonga La Puñalada auf der Rückseite wurde über 17 Mio. mal verkauft!
    Wichtige Sänger:
- Alberto Echagüe
- Hector Mauré
- Armando Laborde
- Bedeutende Musiker:
- Piano:
       - Rodolfo Biagi
       - Juan    Polito
       - Fulvio Salamanca

- Bandoneon: Hector Varela
-  Geige: Cayetano Puglisi

Juan D’Arienzo -     El Rey del Compás  (Tango ist Rhythmus)
   
von Olli Eyding
1935 revolutionierte Juan D’Arienzo mit seiner Musik den Tango in Buenos Aires. (...) Was war passiert?
    Die Tangowelt trauerte. Der tragische Tod Carlos Gardels erschüttert das Land. Tango wurde seit einigen Jahren vor allem gehört, weniger getanzt. (...)
    Und dann elektrisierte D’Arienzo die Stadt. (...)  Das Repertoire D’Arienzos war traditionell, viele Stücke stammten aus der Zeit der Guardia Vieja, also von vor 1920. Er arrangierte sie aber modern, frisch, fröhlich, nervös und mit großer Energie. Und er spielte schneller. Vor allem bauen seine Tangos auf einem zackigeren rhythmischen Fundament auf, einem Stakkato-Beat, der fast wie ein Metronom alle vier Schläge betont, während die meisten Orchester den 1. und 3. Schlag markierten. Seine Fangemeinde wuchs. Er wurde zum Rey del Compás, zum König des Taktschlags ernannt. Rodolfo Biagi trug entscheidend zu dieser rhythmischen Revolution bei. (...)  Biagi spielte einfach frecher, unberechenbarer, synkopischer, seine wilden Zwischenspiele zwischen den Phrasen sind unverwechselbar. (...)   D’Arienzo hatte den Tango wieder auf die Füße gestellt.
   
    Der Meister und seine Musiker
    Osvaldo Pugliese, überzeugter Kommunist, führte sein Orchester wie ein Kollektiv. D’Arienzo war aus anderem Holz geschnitzt. (...) D’Arienzos Musiker berichten, dass das Orchester einfach anders klang, wenn der Maestro fuchtelnd vor ihnen stand, provozierte, lächelte, anfeuerte und sie dazu trieb, alles zu geben. All dies sieht man wunderbar verdichtet im legendären Fernsehauftritt mit dem Tango Loca (1955) ( ... )
Natürlich war D’Arienzo 1940 ein Mythos und einer der besten Arbeitgeber. Trotzdem verließ ihn Anfang 1940 während des schon traditionellen Aufenthalts in der Sommerfrische in Montevideo seine gesamte Mannschaft einschließlich des Sängers Alberto Echagüe (...)  Der Bandoneonist Hector Varela stellte ihm seine gerade neu geformte Truppe zur Verfügung. Dazu gesellte sich der legendäre Geiger Cayetano Puglisi und intonierte von nun an die typischen langgezogenen Soli auf der tiefsten Geigensaite. ( ... ) Fulvio Salamanca, von D’Arienzo in der Provinz entdeckt, übernahm, blutjung, aber perfekt ausgebildet, diese Aufgabe und blieb 17 Jahre. ( ...)  D’Arienzos Orchester überlebte als eines der wenigen den Niedergang der Tangokultur Mitte der 50er-Jahre. Er veröffentlichte weiter regelmäßig, hielt am klaren Beat fest, wenn auch die Arrangements – spätestens seit dem Abgang von Fulvio Salamanca 1957 – sehr reichhaltig, mächtig und geigig wurden. Der Sound des neuen Arrangeurs Carlos Lazzari erinnert teilweise an die großen Big Bands der Zeit. ( ... )
   
    Der Musiker D’Arienzo
    D’Arienzo erblickte im Jahr 1900 das Licht der Welt. (...)
    In den 20ern agierte er, oft im Team mit dem Pianisten Ángel D’Agostino, in Kinos, Theatern sowie mit Tango- und Jazz-Combos. Aus seiner Feder flossen dutzende Tangos, darunter so wunderbare Stücke wie Paciencia (1937, 1951)3 , Hotel Victoria (1935) oder Bien Pulenta (1950). 1933 legte der Rey del Compás seine Geige zur Seite und zelebrierte sich von nun an als immer wilder agierender Orchesterleiter. Die musikalische Feinarbeit, natürlich nach seinen Vorgaben, überließ er seinen Arrangeuren. Er widmete sich vornehmlich dem Geschäftlichen und agierte als Aushängeschild der durch die Jahrzehnte immer zugkräftigeren Marke 'D’Arienzo', die vor allem auch in Japan ihre Fans hatte. (...) Ein guter Teil seiner immensen Einkünfte verpuffte auf den Pferderennbahnen, beim Roulette, aber auch mit den Zigarillos, die ihn ständig begleiteten.
   
    D’Arienzo für Tänzer
    In einem vielzitierten Interview von 1949 sagte D’Arienzo, Tango sei in erster Linie Rhythmus, nervöse Energie, Kraft und Charakter. (...)
    Knackige Milongas:
    Zwar sind D’Arienzos Milongas deutlich schneller als z.B. die von Canaro, insbesondere die Nummern vor 1940 sind alle durchgehend gut tanzbar. Hierzu zählen Instrumentalklassiker wie De pura cepa (1935), El esquinazo (1938), das ist die mit dem Stampfen, oder Milonga Querida (1939) mit dem Sänger Alberto Echagüe. Auch wenn D’Arienzo seinem Stil durch die Jahrzehnte treu bleibt, sind die späten Milongas hektisch und klanglich sehr aufgeblasen.
    Rasante Valses
    D’Arienzo wollte, dass der Saal rockt, dass die Tänzer mitgerissen werden. Er spielte daher im Verhältnis viele Milongas und Valses ein. Die Konzentration auf den Beat funktioniert bei den Valses fast durchgehend, wie die Milongas zählen sie zum Standardrepertoire jedes DJs. In Orillas de Plata (1935) treibt eine präzise Rhythmusmaschine aus Bass, linker Klavierhand und Bandoneons voran, während das typische Geigensolo die Tänzer schweben lässt. Miedo (1940), eingespielt vom Star-Orchester mit Varela, Salamanca, Puglise und dem Sänger Mauré, beeindruckt mit Geschwindigkeit, Energie, Subtilität und einem komplexen, melodiösen Arrangement.
    Tangos im Taktschlag
    Die ersten drei Dutzend Aufnahmen mit dem neuen Orchester von 1935 wie Re fa si (1935) oder Rawson (1936) sind fast durchgehend instrumental, der stakkatohaft vorgetragene Beat ist sehr dominant. Besonders filigrane rhythmische Spielereien Biagis finden sich in Pico Blanco (1939) oder in Mandria (1939) mit Alberto Echagüe. Der Sound zu Beginn der 40er-Jahre ist viel reichhaltiger. Maurés Gesang darf mehr in den Vordergrund treten, scheint teilweise im Wettstreit mit den betörenden Melodielinien von Puglisis Geige zu stehen, während das sehr viel breiter angelegte Klavierspiel Salamancas die komplexen Arrangements antreibt. Man hört dies sehr schön in Claudinette (1942) oder in der fantastischen Version von Uno (1943) mit Héctor Mauré. Bis 1975 nahm D’Arienzo auf. Und er blieb sich treu. Zwar gab auch er, dem Geschmack der Zeit folgend, den Sängern mehr Raum, doch er degradierte sich nie zur Begleitung eines divenhaft verehrten Sängers, wie er es im erwähnten Interview von 1949 den anderen Orchestern vorwarf. Stattdessen entstanden zum Beispiel sehr energiereiche Instrumentalnummern wie Tucumán (1950) oder Yapeyú (1951), kräftige Stücke mit seinem wichtigsten Sänger, Echagüe oder aufwändig arrangierte wuchtige Einspielungen mit dem grandiosen Sänger Osvaldo Ramós wie Sentimiento Gaucho (1965) oder Mi Dolor (1972). Von großer Qualität sind die insgesamt sechs Einspielungen von La Cumparsita zwischen 1935 und 1971, wobei die von 1951 als die stärkste angesehen wird.

Interessante Informationen zu Juan D'Arienzo von "El Espejero"



Home




Miguel Caló

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 71 -  03/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

  *28.10.1907  +24.05.1972
Status: Entdecker großer Talente
rund 384 Aufnahmen
Stil: rhythmisch, elegant, melodisch, wie Kammermusik
Merkmale: harmonisch, ausbalanciert, lyrische Sänger, in Einzeltöne aufgelöster Schlussakkord
Spezialität: kurze virtuose Soli,
Größter Hits: Al Compás del Corazón (1942), Que falte que me haces (1962)
Wichtigste Sänger:
-    Alberto Podestá (1924 – 2015)
-    Raúl Berón (1920 – 1982)
-    Jorge Ortiz (1912 – 1989)
-    Raúl Iriarte (1916 – 1982)
Wichtigste Musiker:
-    Piano/Arrangement: Osmar Maderna
-    Geige: Raúl Kaplún, Enrique Francini
Bandoneon: Armando Pontier, Domingo Federico

     Das Orchester der Stars - La Orquesta de las Estrellas
   
von Olli Eyding

Caló macht Tänzer wie Hörer glücklich: ein präziser, abwechslungsreicher Compás, ausbalancierte, wenig überladene Arrangements, virtuose Soli, wunderbare Stimmen. Einziges Manko: Vieles wurde schon zu oft gespielt.
Miguel Caló selbst war ein solider Musiker und erfolgreicher Geschäftsmann, vor allem aber hatte er ein sehr gutes Händchen bei der Auswahl und Förderung junger, genialer Musiker, die oft erst kurz zuvor den Schritt aus der Provinz ins brodelnde Buenos Aires gewagt hatten. Um 1940 hatte er sich einen Talentschuppen zusammengestellt, der seinesgleichen suchte. (...)

Der Einstieg in die große Welt des Tango gelang, als ihn Osvaldo Fresedo 1926 entdeckte. Eigene Orchestergründungen Calós waren von kürzerer Dauer, 1931 begleitete er Fresedo in die USA. Erst Calós Orchester von 1934, in dem auch einige seiner Brüder mitspielten, erwies sich als stabiler. Die 18 Aufnahmen, die zwischen 1934 und 1938 entstanden, sind ansprechend, aber nicht herausragend.
Zwischen 1937 und 1940 rekrutierte Caló dann die Musiker, die bis zur Auflösung 1944 als ‚Orquesta de las Estrellas’ in die Geschichte eingingen. (...)  Zu Beginn der 60er-Jahre gelang ihm sogar noch einmal ein Comeback mit den ‚Estrellas’ der 40er. Calós Komposition Que falta que me hacés (1962), einer der ganz großen Tangos, ist der beste Beweis für die anhaltende Klasse dieser Musiker.

Die Musik
In einzigartiger Weise verschmelzen in diesem Orchester eher traditionelle Elemente wie ein regelmäßiger Compás mit großer Musikalität. (...)
Verantwortlich für diesen sehr ausbalancierten Sound waren die Arrangeure, zunächst Miguel Nijensohn, dann Argentino Galván, vor allem aber seit 1939 der erst 21-jährige Pianist Osmar Maderna.
Seine präzisen Arrangements geben den virtuosen Musikern immer wieder Raum für kurze, einprägsame, melodische Soli, in denen vor allem Maderna selbst, aber auch die Geiger Raúl Kaplún und Enrique Francini sowie die Bandoneonisten Armando Pontier und Domingo Federico ihre Fähigkeiten leuchten lassen.
(...)
Sterne im Himmel des Tango - Die Musiker Calós

Osmar Maderna (26.02.1918 – 28.04.1951)
Schon vor 1939 hatte Caló gute Arrangeure, doch erst unter der Regie des genialen Pianisten Osmar Maderna, der vor Ideen sprühte und für die jungen Virtuosen ausbalancierte, geschmackvolle Instrumentierungen kreierte, reifte der Caló-Sound. (...) Er setzt die grandiosen Musiker des Orchesters präzise in Szene, der Klang ist transparent, manche Melodien setzen sich wie Schlager ins Ohr, oft erinnert der Sound ein wenig an ein Kammerorchester.
(...)  Es war Maderna, der das Orchester vom Klavier aus lenkte. Mit lebendigem Bassspiel der linken Hand erzeugt er einen subtilen Groove. (Sein sogenanntes Marcato abierto zeichnet sich dadurch aus, dass er in der linken Hand auch höhere Register des Klaviers mitbenutzt, sodass der Klang transparenter wird.  Dazu schlüpfen perlende Soli der rechten Hand wie ein musikalischer Kitt zwischen die Phrasen und füllen, ohne aufdringlich zu sein, die Lücken der zurückhaltend instrumentierten Arrangements.
(...)
Enrique Francini (14.01.1916 – 27.08.1978)
Wie Armando Pontier, Hector Stamponi, Raúl Berón oder der Tango-Poet Homero Expósito stammte Francini aus dem Provinznest Zárate. (...)  Zusammen mit Raúl Kaplún, den er 1942 als erste Geige ablöste, waren es seine singenden Saiten, die in meist kurzen Phrasen von vier Takten brillierten. Mit seinem Freund Armando Pontier gründete er 1945 ein eigenes, etwas progressiveres Orchester (...).  In den folgenden Jahren mühte sich Francini unter anderem in Astor Piazzollas Oktett mit dessen abgefahrenen Arrangements ab und bildete sich immer weiter fort, sodass er ab 1958 auch im Symphonieorchester des Teatro Colón in Buenos Aires seinen Platz fand. (...)  Francini spielte wortwörtlich bis zu seinem Lebensende: Bei einem Auftritt im in den 70ern angesagten Tangoclub Caño 14 erlitt er 1978 einen Herzinfarkt und starb, während er den Klassiker Nostalgias intonierte.

Armando Pontier 29.08.2017 – 25.12.1983
Pontier kam 1939 zusammen mit Francini, dem er in lebenslanger Freundschaft verbunden war, zu Caló, (...). 95 Kompositionen hinterließ der herausragende Bandoneonspieler. Vor allem in Zusammenarbeit mit Aníbal Troilo, aber auch mit den großen Textern der Epoche wie Homero Expósito oder José María Contursi entstanden Klassiker wie Trenzas (1945, mit Expósito), Tabaco (1944, mit Contursi) oder Milongueando en el 40 (1941).

Domingo Federico (04.06.1916 – 06.04.2000)
Domingo hatte sich als Schüler das Bandoneonspiel selbst beigebracht, begann Medizin zu studieren, besuchte dann aber das Bandoneonkonservatorium von Pedro Maffia und Sebastián Piana. (...) 1941 wurde er in Calós Orchester aufgenommen. Im Gepäck hatte er die Komposition, die Raúl Berón und damit dem Orchester den Durchbruch brachte: Al Compás del Corazón (1941). Domingo machte sich 1943 als erster selbständig, (...) Tänzer erleben die frühen, ausdrucksstarken Aufnahmen mit dem Sänger Carlos Vidal leider viel zu selten. Hören Sie vom Orchester Domingo Federico z.B. Yo (1944) oder Yuyo verde (1944). (...)

Alberto Podestá 22.09.1924 – 09.12.2015
Quasi als Kinderstar feierte Alejandro Washington Alé, so sein richtiger Name, erste Erfolge im Provinzradio LV5 Radio Los Andes, suchte als 15-Jünfzehnjähriger 1939 sein Glück in Buenos Aires und wurde von Calós Bruder Roberto entdeckt, als er, weil völlig pleite, Buenos Aires schon wieder den Rücken kehren wollte. Da Carlos Di Sarli ein Vielfaches an Gage bot, wechselte der gerade erst 19-Jährige 1942 für zwei Jahre zu Di Sarli, erhielt von diesem seinen Künstler-Namen, den er ein Leben lang behielt, kehrte aber 1944 zu Caló zurück und unterstützte schon im nächsten Jahr das Orchester von Francini und Pontier. (...) Alberto Podestá blieb dem Tango sein Leben lang treu, ist auf rund 500 Aufnahmen zu hören und war einer der wenigen Musiker, die die Renaissance des Tango seit den 80er-Jahren miterlebten und, bis zu seinem Tod vor knapp zwei Jahren, auch mitgestalteten.

Raúl Berón 30.3.1920 – 28.06.1982
Beróns Vater wollte berühmt werden. Vergleichbar mit den Jackson Five in den 70ern oder der Kelly-Family in den 90ern formte er mit seinen fünf Kindern die Band ‚Los Provincianitos’ und versuchte ab 1924 sein Glück in Buenos Aires. (...) Raúl sang mit seinem Bruder Folklore, bis Pontier den 19-Jährigen, der bis dahin noch keinen Tango singen konnte, entdeckte. Die Radiodirektoren lehnten den jungen Sänger mit der ungewohnt samtweichen leiseren Stimme, dem wohl auch noch Raffinesse fehlte, zunächst ab. Caló war schon auf der Suche nach einem Ersatz, doch Beróns erste Schellack Al Compás del Corazón (1942) wurde ein so großer Hit, dass die Direktoren Caló nun zu seinem neuen Sänger beglückwünschten. (...) Bis in die 60er-Jahre feierte er Erfolge in den Orchestern von Lucio Demare, Francini und Pontier sowie über viele Jahre mit Aníbal Troilo.

Caló für Tänzer

Valses
Pedacito de cielo (1942), Bajo un cielo de estrellas (1941), Jugando ... jugando (1946) oder El vals soñador (1942) – letzterer mit einem Vibraphon-Solo, auch das ein Zeichen dafür, dass die Musik des Orchesters in der Tradition von Osvaldo Fresedo steht – haben, wie im Vals üblich, positiv gestimmte Titel und Texte. Sie sind fast kammermusikalisch instrumentiert, vermeiden Hektik und Expressivität und lassen Tänzer, auch wegen der von Berón und Pedostá mit samtigen Stimmen vorgetragenen Melodielinien, wie auf Wolken durch die Ronda schweben. Romantik pur!

Milonga
Die für Calós Sänger typische, eher freie rhythmische Phrasierung belebt Tangos und Valses, den Milongas fehlt dadurch aber teilweise Präzision und Klarheit. Einige Milongas wie Azabache (1942) sind eigentlich Candombes oder haben einen an die Candombe angelehnten Rhythmus. DJs wählen Calós Milongas nur mit Bedacht und mit Rücksicht auf Tänzer und Stimmung.

Tango
Die Aufnahmen, die zwischen 1941 und 1944 entstanden, überzeugen fast durchgehend, nach 1945 ist manches anspruchsvoller arrangiert. Aus der großen Masse kann ich nur auf einige der vielen Hits verweisen, die bisher im Text nicht genannt wurden:
Instrumental: Saludos (1944), Tierra querida (1944), Inspiración (1943), Sans souci (1944)
Sänger Alberto Podestá: Yo soy el tango (1941), Dos fracasos (1941), Percal (1943), Si tú quisieras (1943)
Sänger Raúl Berón: Lejos de Buenos Aires (1942), Trasnochando (1942), Tarareando (1942), Cuatro Compases (1942)
Sänger Jorge Ortíz: Ya sale el tren (1942), Barrio de tango (1943), Pa’ que seguir (1943), A las siete en el café (1943)
Sänger Raúl Iriarte: Trenzas (1945), Fruta Amarga (1945) oder Gimme el viento (1943)

www.Tangotunes.com veröffentlichte 2016 alle Aufnahmen des Orchesters zwischen 1941 und 1950 in herausragender Qualität

Exkurs: Die Pension Alegría
Viele der jungen Sterne des Caló-Orchesters waren gerade erst aus der Provinz nach Buenos Aires gekommen, für viele war die Pension Alegría erste Heimat. Dies war ein besonderer Ort. Der Herbergsvater, Humberto Cerino, liebte den Tango. Er stellte sein Haus bevorzugt jungen Musikern zur Verfügung, die in Mehrbettzimmern hausten und Tag und Nacht gemeinsam übten. Neben den vielen Bandoneons und Geigen der Musiker beherbergte das Haus selbst drei Klaviere. Den oft finanziell völlig ausgebrannten Musikern gewährte Cerino großzügig Kredit bis zum nächsten Engagement, während seine Frau den Hunger der jungen Bande bevorzugt mit Linsensuppe stillte. Zu den Gästen zählten aus dem Caló-Orchester Enrique Mario Francini, Armando Pontier, der Pianist Hector Stamponi, der Arrangeur Argentino Galván, während der Texter und Bohemien Homero Expósito regelmäßiger Gast seiner Freunde war. Ein wichtiger Treffpunkt war, so wird berichtet, ein Café gegenüber, das vor allem durch die Schönheit der Dame glänzte, die die Schellacks an der Victrola abspielte.









Home




OSVALDO FRESEDO

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 71 -  03/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

Spitzname: ‚El Pibe del Paternal’

*05.05.1897  +18.11.1984

Status: Orchester der Aristokratie
Anzahl der Aufnahmen: rund 1.250
Stil: elegant, harmonisch, romantisch
Merkmale: ausbalancierte Arrangements, ungewöhnliche Instrumente (Vibraphon, Harfe, Schlagzeug), kaum Soli
Besonderheit: kaum Vals oder Milonga
Größte Hits:
Vida Mía (1933, Ray)
Nieblas Del Riachuelo (Ray, 1937)
Buscándote (1941, Ruiz)
und viele andere
Wichtige Sänger:
-    Roberto Ray (1931-1939)
-    Ricardo Ruiz (1939-1942)
-    Oscar Serpa (1942-1947)

EL PIBE DEL PATERNAL
   
von Olli Eyding

Der körperlich kleine Osvaldo war einer der ganz Großen. Mit seiner äußerst eleganten Musik begründete er einen unvergleichlichen Stil, der andere Meister wie Carlos Di Sarli, Miguel Caló oder Florindo Sassone beeinflusste. Er machte über 1250 Aufnahmen, die erste im Jahr 1920, die letzte erst 1980. Keiner war so lange im Geschäft wie er.


El Pibe de la Paternal

Der musikalisch hochbegabte und mit einem sehr feinen Gehör gesegnete Osvaldo stammte, anders als viele seiner Kollegen, aus einer durchaus wohlhabenden Familie. (...) 1910 zog die Familie in das Viertel La Paternal um. Durch die Straßen zogen Drehorgelspieler mit ihren Organitos, die immer öfter Tangos erklingen ließen. Schon zuvor war Osvaldo von der Mutter, selbst Klavierlehrerin, musikalisch gefördert worden. Doch jetzt stürzte er sich leidenschaftlich auf die neue Musik. Weil Osvaldo nach Abschluss der Wirtschaftsschule Tag und Nacht ununterbrochen Bandoneon übte und Musiktheorie studierte, flog auch er, so wie sein späterer Musikerkollege Julio de Caro, aus dem Elternhaus. Osvaldos Vater akzeptierte aber schließlich die Begeisterung der Söhne. Nachdem der 17-Jährige nachts in den Cafés der Stadt zusammen mit seinem geigenden älteren Bruder Emilio mit einem Trio erste Erfolge feierte, eröffnete der Vater kurzerhand selbst ein Lokal, damit die Söhne nicht mehr des nachts durch Buenos Aires tingeln mussten.

Damals, 1914, übte Fresedo oft bis tief in die Nacht im Landhaus der Familie. Angeregt von den Trillerpfeifenpfiffen der Wachmänner entstand seine erste, bis heute herausragende Komposition El Espiante .

Schon dieser Erstling verweist auf Fresedos Sinn für Klang. Zu Beginn ahmen die Musiker die Pfiffe nach, man hört das hektische Stampfen, Zischen, Beschleunigen und Bremsen einer Dampflok und erlebt so den Flüchtenden, so die Bedeutung des Titels, der dem Lunfardo, der Gaunersprache der Porteños, entstammt.

Fresedo berichtet aus dieser Zeit, in der es noch kein Radio gab, dass er als Bandoneonspieler sehr großes Ansehen genoss und die Jungs der Nachbarschaft sogar stolz darauf waren, wenn sie sein Bandoneon tragen durften.

Schon im nächsten Jahr, 1915, zählte der Kleine zu den Großen, trat in verschiedenen Orchestern in den neu eröffneten Cabarets Montmarte und Royall Pigall auf und erhielt schließlich, in Anlehnung an den berühmten Bandoneonspieler Pedro Maffia, den alle ‚El Pibe de Flores’ nannten, seinen Spitznamen ‚El Pibe de La Paternal’ (‚Der Kleine aus La Paternal’).

Tangos für die Aristokratie

1919 gründete Fresedo sein erstes eigenes Sextett, bald spielten bei ihm spätere Stars wie Miguel Caló oder Carlos Di Sarli. Aber auch Julio De Caro, der ja als der Revolutionär des Tango der 20er-Jahre gilt, wurde nach 1920 von Osvaldo geprägt. Fresedo führte neue Techniken wie das Staccato-Spiel der Bandoneons oder gemeinsame Cressendi des Orchesters ein.

Vor allem aber war er der Liebling der Reichen im Norden der Stadt und eroberte mit seinem schon damals ausgewogenen Klangbild deren Tanzsalons und Cafés in einer Zeit, als der Tango noch mehr oder weniger primitive Volksmusik der Vorstädte war.

Von der Guardia Vieja zur Guardi Nueva

Es waren Fresedo und andere Musiker der sogenannten Guardia Nueva, die diesen frühen Tango der Straße zu anspruchsvollerer Musik weiterentwickelten. Es wundert daher nicht, dass er als einer der ersten sein Sextett zu einem kompletten Orquesta Típica mit drei Geigen, drei Bandoneons, Bass und Klavier erweiterte.

Fünf Orchester gleichzeitig
Zwischen 1925 und 1928 entstanden rund 600 Aufnahmen für das Label Odeon. Im Jahr 1927 war seine Popularität so groß, dass zeitgleich vier Orchester unter seinem Namen auftraten: Das Hauptorchester spielte im Cabaret Ta-Ba-Ris sowie im Radio, ein zweites wurde vom jungen Carlos Di Sarli im Kino Fénix dirigiert, ein drittes spielte in der Bar Fresedo, die der Besitzer nach dem begehrten Orchesterleiter benannt hatte, während der Meister selbst allabendlich durch die Stadt sauste und sich bei jedem der Orchester einmal sehen ließ.

El Turco - Pferderennen
Wie so viele Porteños begeisterte sich auch Fresedo leidenschaftlich für Pferderennen. Nachdem er 1923 bei einem Rennen einen dicken Batzen Geld gewonnen hatte, erfüllte er sich einen Traum und kaufte sich ein Flugzeug, mit dem er in der Folge sogar Preise bei Flugschauen absahnte.

Immer wieder USA

1920 erwählte die US-Plattenfirma RCA Victor, die erst 1922 ihr Aufnahmestudio in Buenos Aires eröffnete, den jungen Osvaldo zusammen mit zwei weiteren Talenten für Aufnahmen in den USA, um der anderen wichtigen Plattenfirma, Odeon, die die Kassenschlager Gardel, Canaro und Firpo unter Vertrag hatte, etwas entgegensetzen zu können. Die jungen Männer erhielten zwar je 5.000 Dollar und Fresedo konnte so schon 1920 sein talentiertes Bandoneonspiel in die Rillen der Schellacks pressen lassen – ansonsten aber stießen die drei Porteños im jazzbegeisterten New York mit ihren Auftritten, bei denen die Argentine Indians from the Pampas gezwungen wurden, sich halbnackt im Gaucho-Kostüm als argentinische Wilde zu vermarkten, auf wenig Resonanz.

Doch Fresedo kehrte mehrmals nach New York zurück. Während seines längsten Aufenthalts, 1934, leitete er sogar ein eigenes Orchester, mit dem er in angesagten New Yorker Hotels wie Savoy-Plaza und Ritz-Carlton auftrat. Zwar gelang es Fresedo nicht, den Tango in die USA zu tragen, doch er wurde vom Jazz und Sound der großen Big Bands beeinflusst. Bis 1939 spielte Fresedo noch selbst sein geliebtes Bandoneon, um sich dann auf Leitung und Organisation des Orchesters zu beschränken.

Ungewöhnliche Instrumente

Schon in früheren Besetzungen der 20er- und 30er-Jahre gehörten Saxophon, Schlagzeug und Westerngitarre zum Ensemble, woran man erkennt, dass Fresedos Orquesta Típica eben ein Tanzorchester war, das, wie die meisten Combos damals, neben Tangos auch andere Genres spielte. Vor allem in den frühen 30er-Jahren finden sich in der Diskographie des Orchesters entsprechend zahlreiche Foxtrotts, Rumbas, Pasodobles, Rancheras oder Märsche.

Aber erst 1935, nachdem Fresedo aus den USA zurückgekehrt war, integrierte er die für seinen Sound so typischen Instrumente Harfe, Vibraphon und Schlagzeug in sein Orchester.
Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass über 20 Jahre später der amerikanische Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie während seiner Tournee durch Argentinien im Jahr 1956 gerade in Fresedos Club landete. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend. Von diesem legendären Tango-Jazz-Crossover entstanden sogar Aufnahmen, wie z.B. Vida Mia. 

EIN FARBENFROHER KLANGTEPPICH
   Die Geheimnisse des Fresedo-Sounds
(I
m wunderbaren Vamos, corazón (1941, Ruiz) lassen sich die meisten in den nächsten Absätzen  beschriebenen Effekte in den ersten 30 Sekunden nachhören.)

Über sechs Jahrzehnte leitete Fresedo verschiedenste Orchester. Seinen Markenzeichen –  größte musikalische Qualität, ein harmonisches Klangbild sowie eine große Ausgewogenheit zwischen Rhythmus und Melodie – blieb er zwar treu, doch es sind die Titel zwischen 1933 und 1943, die von einer ganz eigenen Magie umgeben sind, der sich kaum ein Tänzer entziehen kann.

Fresedo zaubert wie aus einer Wundertüte ganz besondere musikalische Bausteine hervor und verwebt sie zu farbenfrohen Klangteppichen aus schönen Melodien, eleganten Rhythmen und erlesenen Ohrschmeicheleien.

Die Geigen1 stehen in Fresedos Klangwelt an erster Stelle. Er positionierte sie daher auf der Bühne gerne vor den Bandoneons. Häufig lässt er das ganze Orchester ein- bis viertaktige Phrasen im Wechsel einmal legato, also mit Bogenstrich, und dann stakkato, vielfach in Pizzicato-Technik, also gezupft, spielen. Wunderschöne Geigengesänge und Gegenmelodien schichten sich dabei neben- und übereinander. Da diese Melodien meist einfachen rhythmischen Mustern folgen, inspirieren sie die Tänzer manchmal deutlich, manchmal zurückhaltend, aber immer subtil und präzise mit einem klaren Compás. Typisch sind außerdem meist gedämpfte, manchmal auch brachiale Crescendi und Decrescendi des gesamten Orchesters, z.B. im Tango Derecho Viejo von 1942 bei  0:15.

Das jazzige Klavier
Genauso grundlegend für den Fresedo-Sound ist aber die Art, wie er das Klavier einsetzt. In den meisten Orchestern pulsiert dieses mächtige, vielseitige Instrument als rhythmisches Zentrum. Oft sind es die Pianisten, die mit den kräftig gedroschenen tiefen Akkorden der linken Hand den Beat markieren. Fresedo strebte immer einen aristokratisch-eleganten Klangkosmos an und verzichtete daher auf die grollenden tiefen Wogen des Pianos ebenso wie auf den Sound der Bandoneons, die bei ihm selten im Vordergrund, sondern eher als zurückhaltende Rhythmusbetonung zu hören sind.

Das Klavier setzt sich stattdessen wie ein Jazzpiano, das das rhythmische Fundament von Schlagzeug und Bass harmonisch füllt, zwischen die von den Geigen vorgetragenen Melodielinien, kommentiert und variiert diese oder spielt mit Triolen-Rhythmen. Aber auch Harfe und Vibraphon erstrahlen an diesen Schnittstellen musikalischer Phrasen vielfach mit rasend schnell gespielten an- und abschwellenden Läufen oder wohlklingenden Klangpunkten. Auf ganz ähnliche Weise tritt auch das Schlagzeug mit ausgewählten, klanglichen Akzenten in Erscheinung. Erst nach 1950 verwendet es Fresedo auch als durchgehend gespieltes Rhythmusinstrument.

Ein luftiger, hoher Sound
Der mit größter Sorgfalt gepflegte Zusammenklang der Instrumente, die Arpeggienläufe von Harfe, Klavier und Vibraphon, das vorwiegend in den höheren Lagen gespielte Klavier, die bewusst gesetzten Klangakzente aller Instrumente sowie die glockenklaren Tenorstimmen der Sänger verleihen dem Orchester insgesamt einen lieblichen, romantischen Touch, ohne je in rhythmische Beliebigkeit zu verfallen.

Um diesen schönen, ausgewogenen Klang mit reinen Melodien zu erreichen, probte Fresedo mit jeder Instrumentengruppe lange und intensiv einzeln; er wollte, wie er selbst sagte, dass jeder Musiker die Emotionen der Musik verinnerlicht. Nicht Soli-virtuose die Soli virtuoser Musiker zählten für ihn, sondern der Gesamtklang des Orchesters.

Konsequenterweise findet man bei Fresedo diesem Orchester eher selten treibende, energiegeladene Variaciones, also ein rasant gespieltes Finale. Tänzer, die mit Moulinetten oder energiegeladenen Figuren am Ende nochmal alles geben, das passt eben nicht wirklich zu Fresedo.

DIE FRESEDO-SCHULE
Carlos Di Sarli war in den 20er-Jahren Pianist bei Fresedo. Er ließ den Geigen eine ähnliche Bedeutung zukommen und suchte ein zwar ganz eigenständiges, aber dennoch in der Tradition Fresedos stehendes ausgewogenes Klangbild. Als Hommage an sein musikalisches Vorbild gilt Di Sarlis Komposition Milonguero Viejo.

Florindo Sassone strich zu Beginn der 30er-Jahre seine Geige unter der Regie von Fresedo und wurde entscheidend von ihm geprägt. Zu Beginn der 60er-Jahre hatte Sassone große Erfolge mit dem Repertoire von Di Sarli, das er aber durch die Verwendung von Harfe, Vibraphon und Schlagzeug dem Klangbild Fresedos annäherte und so den Sound beider großer Musiker miteinander verwob.

Aber auch in der Musik Miguel Calós, die sich ebenfalls durch Eleganz und Ausgewogenheit auszeichnet, hört man, dass der Bandoneonist Caló vor und nach 1930 immer wieder mit Fresedo zusammenarbeitete und von ihm geprägt wurde.
 
FRESEDO FÜR TÄNZER

Osvaldo komponierte rund 80 Titel wie z.B. El Espiante, Arrabalero, El Once (A divertirse), Pimienta, Pampero, Siempre es Carneval, Sollozos oder Vida mía. Milongas und Valses spielen in seinem Repertoire keine Rolle.

Zackiges aus den Dreißigern
1933 startete Osvaldo mit neuem Orchester und starken Musikern beim Label Odeon. Schon die erste Aufnahme Araca la Cana (Lunfardo für "Vorsicht, Polizei" (1933, Roberto Ray) setzt energiereich mit präzisem Groove ein, aber auch die Instrumentalstücke La Clavada (1933), Tigre Viejo (1934) oder Firulete (1940) inspirieren Tänzer mit ihrer abwechslungsreichen Zackigkeit genauso zu rhythmischen Spielereien wie die traditioneller geartete Erstkomposition El Espiante in der Einspielung von 1933 mit fantastischen Soundeffekten.

Romantisches mit Roberto Ray
Roberto Ray (1912-1960) passte perfekt zu Fresedos musikalischen Vorstellungen. 1931 stieß er als Estribillista (Strophensänger) zum Orchester, in den frühen 30er-Jahren war Fresedo einer der ersten, der seine Sänger auch längere Phrasen singen ließ.
Als Ray schließlich 1939 das Orchester verließ, um weit weniger erfolgreich eigene Wege zu gehen, war die Paarung Ray-Fresedo längst ein feststehende Größe geworden, mit seinem glockenhellen, hohen Tenor voll raffinierten Ausdrucks hatte Ray den Maßstab für alle späteren Sänger Fresedos gesetzt.
Mitte der 30er-Jahre entstanden große Hits wie Vida mía (1933), Isla de Capri (1935, Ray), Cordobesita (1935, Ray), Nieblas de Riachuela (1935, Ray), Volver (1935, Ray) oder Sollozos (1937, Ray). Sie nehmen einen der oberen Plätze auf der All-Time-Tango-Hitliste ein und strahlen ruhige Eleganz und Grazie aus.

Elegante Energie mit Ricardo Ruiz
Im Zuge der D’Arienzo-Revolution ab 1936 gestaltete auch Fresedo seine Klangteppiche etwas schneller und energiereicher, ohne auf Qualität, Eleganz und Harmonie zu verzichten. Sein fantastischer zweiter Sänger, Ricardo Ruiz (1914-1976), lieh dem Orchester für 28 Tangos seine glasklare, hohe Stimme. Inquietud (1939, Ruiz), Mi gitana (1939, Ruiz), Alas (1940, Ruiz) und Rosarina Linda (1940, Ruiz) zeigen Fresedo ebenso auf der Höhe seiner Kunst wie die Tangos Careta, Careta (1939) oder Nidito Azul (1940) mit dem weniger bekannten Carlos Mayel. Diese starke Phase endete damit, dass 1942 nahezu alle Musiker und Sänger das Orchester verließen.

Zwischen romantischer Vollendung und großem Kitsch: Die Sänger Oscar Serpa und Hector Pacheco
Doch Fresedo baute ein neues, ebenso starkes Orchester auf. Neuer Sänger wurde Oscar Serpa (1919 – 1982), bis dahin vorwiegend Interpret traditioneller Volksmusik. Er blieb bis 1947, es entstanden 59 Titel, bis er zu Carlos Di Sarli wechselte. Als weiterer Star stieß Elvino Vardaro dazu, einer der ganz großen Geiger der Época de Oro, der mit einmaligem Ton und virtuoser Technik nicht nur dem Tango Te llama mi violín (1942, Serpa) Klasse verlieh, sondern auch dazu beitrug, dass weitere Höhepunkte dieser herausragenden Jahre der Tangokultur wie z.B. Aníbal Troilos Meisterkomposition Uno (1943, Serpa) oder Tango gris (1943, Serpa) entstehen konnten. Doch schon in diesen Jahren deutet sich in zahlreichen Nummern, wie z.B. Sol (1945, Serpa), an, wohin sich der Fresedo-Sound entwickeln wird. Wegen affektierter Streicherwellen, übertrieben wirkender Klangeffekte oder dem oft aufdringlichen Schlagzeug empfinden die meisten diese häufig langsam gespielte Musik als verkitschte Geigensuppe. Dies gilt umso mehr für die Zeit nach 1950 mit dem Sänger Hector Pacheco (1918 – 2003), die geprägt ist von Fresedos neuem Arrangeur, dem von Astor Piazzolla beeinflussten Bandoneonisten Roberto Pensara. Fresedo, der 1947 seinen eigenen Club namens Rendez Vous eröffnet hatte, spielte in späteren Jahren, wie auch Piazzolla, nur noch selten für Tänzer. ‚El Pibe del Paternal’ starb 1984, bis zuletzt trat er mit seinem Orchester auf.


Home



ANIBAL TROILO

Der vollständige Text erschien in Tangodanza ?????????
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

 

*14.07.1914  +18.05.1975
Spitzname: El Gordo (der Dicke), Pichuco (Lunfardo für ‚kleiner Hund’)
Status: El Bandoneón Mayor de Buenos Aires
Anzahl der Aufnahmen: über 450
Stil: komplex, dynamisch, poetisch
Merkmale: kontrastreich
Spezialität: inniges Zusammenspiel von Sänger und Orchester
Größte Hits: Toda mi Vida (1941, Fiorentino), Uno (1943, Marino), Sur (1948, Rivero)
Wichtige Sänger:
Francisco Fiorentino (1937-1944)
Alberto Marino (1943-1947)
Floreal Ruiz (1944-1948)
Edmundo Rivero (1947-1949)
Roberto Goyeneche (1956-1963)
Bedeutende Musiker:
Piano: Orlando Goñi (1937-1943), musikalisches Genie, Bohemien
Geige: David Díaz, spielte von 1938-1975 die erste
Bass: Kicho Díaz, Metronom und Kraftzentrum (1937-1959)

EL BANDONEON MAYOR
 
und seine Musiker

von Olli Eyding

WAS FÜR EIN MENSCH

Aníbal Troilo eroberte die Herzen der Porteños mit seinem einfühlsamen Bandoneonspiel, einem unvergleichlichen Charakter und mit seiner großen Güte und Menschlichkeit. Nicht umsonst feiert Argentinien an seinem Geburtstag gemäß dem Gesetz Nr. 26.035 den Día Nacional del Bandoneón.

Troilo war erst 23, als er mit seinem Orchester debütierte, mit dem er den Tango um 1940 zu seiner vollen Reife brachte, indem er seine grandiosen Sänger aufwertete und mit dem Orchester verschmelzen ließ. Sein Stil, eine um oft traurige und melancholische Texte arrangierte feinfühlig orchestrierte Mischung aus Rhythmus und filigranen Melodien, wurde für viele zeitgenössische und nachfolgende Orchester wegweisend. Zusammen mit Juan D’Arienzo, Carlos Di Sarli und Osvaldo Pugliese zählt er zu Recht zu den ‚Großen Vier’ des Tangohimmels.

VOM KINDERSTAR ZUM ORCHESTERLEITER

Das erste Bandoneon
Pichuco war ein leidenschaftlicher Fußballer. Daher klingt die Legende schön, dass der Zehnjährige zum ersten Mal ein Bandoneon hörte, als er einen verschossenen Ball aus einem Café der Nachbarschaft holte. Der Klang des Bandoneons faszinierte den Kleinen jedenfalls früh. Trotz größter Armut erstand die Mutter, seit einigen Jahren verwitwet, deshalb für ihren Jungen ein echtes Doble-A, das ihn bis fast an sein Lebensende begleitete.
(
Die meisten Bandoneons kamen aus Sachsen, die besten, die bis heute einen legendären Ruf haben, stammen aus der Manufaktur von Alfred Arnold, daher ‚Doppel-A’.)

Der junge Musiker
Aníbal erhielt Unterricht und übte so leidenschaftlich, dass er schon nach kurzer Zeit in einem Stummfilmkino der Nachbarschaft engagiert wurde. Die Investition der Mutter in den Fueye (Balg), wie das Bandoneon auch genannt wird, zahlte sich von nun an aus. Mit 14 brach Pichuco die Schule ab, spielte kurz in einer Mädchenband, reifte, erwarb sich große Anerkennung und entwickelte sich zu einem Musiker mit großer stilistischer Bandbreite. Anfang und Mitte der 30er-Jahre musizierte er in wechselnden Besetzungen mit zahlreichen progressiven und sich gegenseitig inspirierenden Freunden wie Alfredo Gobbi, Pedro Maffia, Elvino Vardaro, Osvaldo Pugliese und, besonders prägend, Ciriaco Ortíz.

DAS EIGENE ORCHESTER

1937 organisierte der junge Star sein erstes eigenes Orchester. Er war zwar erst 23 Jahre alt, aber schon über zehn Jahre im Geschäft.

Im Cabaret Marabu (1937)

Troilo hatte Glück: Das Cabaret Marabu, eines der bedeutendsten Ballhäuser der Stadt, suchte gerade eine neue Tango-Combo. Sein Sänger Francisco Fiorentino, älter, erfahrener, von Beruf Schneider, brachte seine jungen Mitmusiker auf Linie und stimmte sie auf das noble Ambiente ein: perfekt sitzende Anzüge, akkurates Auftreten, Pünktlichkeit und immer ein fröhliches Lächeln.

Der Start war solide, aber nicht überwältigend. Michael Lavocah zeichnet in seiner Monografie über Troilo anhand von Pressekritiken nach, wie die Band im Laufe des Jahres 1938 reifte und nach und nach ihrem Stil fand.
(
Michael Lavocah: Tango Masters: Aníbal Troilo, S. 27; M. Lavocah beschreibt Troilos Schaffen in dieser Monografie umfassend in mitreißendem Stil.)

Plattenvertrag als Sackgasse

1938 ergatterte Troilo bei Odeón, einer der beiden großen Plattenfirmen, einen Vertrag über drei Jahre, der sich aber als Sackgasse erwies. Odeón gestand Troilo in dieser Zeit nur zwei Aufnahmen zu, Comme il faut und Tinta Verde. Sie strotzen heute noch vor Kraft und Energie, doch sie waren wohl zu avantgarde, die Verkäufe blieben mäßig. Es ist mehr als bitter, dass die wichtigen Jahre zwischen 1938 und 1940 nicht auf Schellack dokumentiert wurden.  Erst nach dem durchschlagenden Erfolg von Toda mi Vida in der Karnevalsaison 1940 nahm nun das zweite große Plattenlabel, RCA Victor, die Band unter Vertrag. Zwölfmal waren sie ab 1941 im Aufnahmestudio. Es gibt heute wohl kaum einen DJ, der einen Abend ohne diese 24 Aufnahmen gestaltet. Sie sind energiereich, rhythmisch, aber gleichzeitig reicher, anspruchsvoller und abwechslungsreicher arrangiert als die Musik des Platzhirschen D’Arienzo. Rhythmische und melodische Phrasen folgen aufeinander, für Troilo typisch, in schnellem Wechsel.

Zita - Troilos lebenslange Liebe und Partnerin

1938 hatte Troilo die Liebe seines Lebens kennengelernt, die griechischstämmige Ida Calachi, genannt ‚Zita’. Schon nach einem halben Jahr bezogen sie eine gemeinsame Wohnung. Sie war ihm zeitlebens bis zu seinem zu frühen Tod eine enge Freundin. Beide hörten gemeinsam Musik, sie beriet ihren „Buddha“, wie sie ihn wegen seines mächtigen Gesichts nannte, bei der Auswahl von Musikern und Sängern.

DIE MUSIKER

Aníbal Troilo - Bandoneón

Er spielt einen Ton und trifft dich damit mitten ins Herz!, bringt es der Bandoneonist und Zeitgenosse Pascual Mamone auf den Punkt.
(Pascual Mamone: „Los Capos del Tango: Troilo“ – Youtube)

Troilo war sicher nicht der größte Virtuose, aber er legte am meisten Gefühl und Ausdruck in seine Musik, verfügte, wie sein frühes Idol Pedro Maffia, über eine samtige Phrasierung und war von Pedro Laurenz’ brillanter Technik inspiriert. Meist leicht nach vorne gelehnt, mit geschlossenen Augen, spielte er sein Instrument, das riesige Doppelkinn hing dabei herab, er war in einer anderen Welt und doch ganz eng mit seinem Publikum verbunden. Sein Bandoneon schien mit den Zuhörern zu sprechen. Die Porteños sind sich in ihrem Urteil recht einig: El Gordo gilt als der größte Bandoneonspieler des Tango.
Seinen Titel "EL Bandoneon Mayor" erhielt er allerdings erst zum Ene seiner Karriere.


SINGEN WIE GARDEL - VON ARRANGEUREN UND RADIERGUMMIS

Die Komponisten lieferten selten vollständige Notensätze, sondern, meist in Form von Klaviernoten, nur Melodien für Strophe, Refrain, rhythmische Muster für die Begleitung und im besten Fall Vorschläge für bestimmte Soli. Jedes Orchester arrangierte dann in seinem Stil, verteilte Abschnitte und Soli auf die verschiedenen Instrumente, gestaltete Intros und Übergänge.

Troilo, musikalischer Autodidakt ohne fundierte Ausbildung, hatte ein großes Geschick für feine, komplexe und dennoch ausgewogene Arrangements. Das Setzen der Noten für ein vielköpfiges Orchester überforderte ihn aber, und so überließ er es schon bald professionellen Arrangeuren, nachdem die Reihen der Bandoneons und Geigen weiter gewachsen waren und sich auch noch Viola und Cello hinzugesellt hatten.

Die groovenden Hits der Jahre 1941 und 1942 prägten Orlando Goñi sowie der weniger bekannte Hector María Artola, seit 1942 tobte sich in dieser Rolle neben Argentino Galván, der schon für das Orchester von Miguel Caló wegweisend war, auch der Querkopf Astor Piazzolla aus, der von Troilo immer wieder zurechtgestutzt werden musste.

Troilo wollte immer, dass das Orchester selbst mit so viel Ausdruck spielt wie eine menschliche Stimme, ja, es sollte klingen wie Carlos Gardels Gesang. Dies erklärt die starken Wechsel in der Dynamik, der Klangfarbe und der Instrumentierung. Gleichzeitig bettete er den Sänger wie ein weiteres Instrument vollständig in das Orchester ein und ließ ihm oft viel Raum.

Troilo wollte, dass die Musik selbst die Poesie der Tangotexte erzählte. Gesang und Musik verschmelzen miteinander, ergänzen sich mit Gegenmelodien, die Instrumente nehmen den Einsatz des Gesangs vorweg, untermalen ihn, oft ist es ein Geigen- oder Bandoneonsolo, das die Emotion des Textes verkörpert.

Nachdem das Orchester 1943 durch Cello und Viola erweitert worden war, wurde der Kontrast zwischen sinfonischen, druckvollen Passagen und leisen, ineinander verwobenen Melodielinien noch größer.

Wenn seine Arrangeure die fertigen Stücke dann mit dem Orchester probten, kam Troilos gefürchtetes Radiergummi zum Einsatz. Mit untrüglichem Gefühl strich er Noten und ganze Passagen, damit die Musik genug Luft hatte.

Ein großer Komponist

Troilo komponierte selbst rund 60 Tangos, einige wie Toda mi Vida (1941), Barrio de Tango (1942), María (1945), Sur (1948) oder Romance de Barrio (1947) zählen zu den großen Klassikern.

Bahnbrechend war seine Zusammenarbeit mit den begnadeten Tangopoeten der 40er-Jahre wie Homero Manzi oder José María Contursi. Letzterer verewigte sein unermessliches Liebesleid um seine unerfüllte Liebe Gricel in rührenden wie beklemmenden Texten.

Francisco Fiorentino – Prototyp des Cantor de Orquesta

Fiore, so sein Spitzname, begann eigentlich als Bandoneonspieler, sang aber, z.B. bei Francisco Canaro, schon in den 20ern die Refrains. Eingebettet in Troilos  filigrane Arrangements entwickelte er sich zum bis heute legendären, herausragenden Orchestersänger (Cantor de Orquesta) der frühen Vierziger, auch weil er frei phrasierte, den Tänzern aber trotzdem ausreichend rhythmische Orientierung bot.

Um Ostern 1944 startete Fiorentino – wohl auch motiviert durch die grandiosen Erfolge, die Alberto Castillo als Solokünstler feierte – eine eigene Karriere: zunächst mit Troilos ehemaligem Pianisten Orlando Goñi, anschließend beauftragte er Astor Piazzolla mit der Leitung seines Orchesters. Die Magie, die zusammen mit Pichuco entstanden war, erreichte er aber nie wieder.

Weitere Sänger

Alberto Marino
Nicht nur der allgemeine Trend, langsamer zu spielen, veränderte nach 1941 den Sound, sondern auch ein neuer Sänger: Bei der Wahl Alberto Marinos, erst 20 Jahre alt, aber als Opernsänger perfekt ausgebildet, hatte Troilo wieder einmal ein glückliches Händchen bewiesen.
Die ‚goldene Stimme des Tango’, wie er genannt wurde, hinterließ Perlen wie Uno (1943), Fruta amarga (1945) oder Maria (1945) und phrasierte noch freier als Fiorentino. Troilo verfügte nun über eines der besten Sängerpaare.

In den folgenden Jahrzehnten liehen unter anderem große Gesangspersönlichkeiten wie Floreal Ruiz, Raúl Berón, Edmundo Rivero, Roberto Rufino oder Roberto Goyeneche diesem wunderbaren Orchester ihre Stimme.

Orlando Goñi - Klavier - El Pulpo

Es war vor allem Orlando Goñi, der zusammen mit Troilo die Spielweise und die stilistische Entwicklung des Orchesters der frühen Jahre prägte.

Goñi war ein außergewöhnlicher Pianist, der frei über alle Register improvisierte. Weil seine Arme dabei wild über die Tastatur flogen, erhielt der schlaksige, blasse Dandy den Spitznamen ‚Pulpo’, der Tintenfisch.
In vielen Tango-Orchestern markiert das Klavier zusammen mit dem Bass wie ein Metronom präzise den Rhythmus und ersetzt so das fehlende Schlagzeug.
Goñi hingegen spielte variabler, verzögerte und beschleunigte, oft im Dialog mit Troilos Bandoneon und Fiorentinos Gesang. Daneben trieb er das Orchester mit wilden, in Bordana-Technik  geschlagenen Akkorden seiner linken Hand an, während die Rechte melodische Linien perlen ließ.
(D
ie Töne werden nicht gleichzeitig angeschlagen, sondern ganz kurz nacheinander, wie beim Anschlagen von Gitarrensaiten)

Wie Goñi über alle Oktaven improvisierend dem Orchester einheizt, hört man gut im kontrastreich und lebendig arrangierten Instrumentaltango C.T.V (1942).

Doch das Genie lebte das Leben eines Bohemien. Goñi trank viel, konsumierte Drogen. Wegen seiner Unzuverlässigkeit trennte sich Troilo 1943 schließlich von ihm.

Ein gutes Jahr gelang es Goñi, mit einem eigenen Orchester zentrale Radiosendeplätze zu erobern und Tänzer im Café Nacional zu begeistern.

1944 verstarb er geschwächt mit nur 31 Jahren.

Sein Nachfolger, José Basso, musste nicht nur dieses außergewöhnliche Talent ersetzen. Es gab auch keine Noten, an die er sich hätte halten können. Troilos Arrangeure hatten es bald aufgegeben, für Goñi etwas zu schreiben, denn seine Improvisationen waren, wie sie selbst zugaben, einfach besser.

Die Brüder Díaz – langjährige Stützen des Orchesters

Goñi, Troilo und Fiorentino phrasierten oft sehr frei. Möglich machte dies über zwei Jahrzehnte das stets präzise, sichere Bassspiel von Kicho Díaz, der 1938, auch erst 20 Jahre alt, zum Orchester stieß.

David, Kichos Bruder, strich sogar fast vier Jahrzehnte lang, von 1937 bis zu Troilos letzten Auftritten 1975, die erste Geige. Mit seinem lieblichen Geigenton prägte er die melodischen Passagen, die, für Troilo so typisch, mit den rhythmischen Abschnitten wechseln.

Astor Piazzolla – auf dem Weg in die Tango-Moderne

So wie der kleine Troilo selbst ein gutes Jahrzehnt zuvor die Auftritte des Sextetts der Brüder De Caro bewundert hatte und sich daran schulte, so verfolgte der junge Astor, der traditionellen Szene in Liebe und Skepsis verbunden, um 1939 die Auftritte von Troilo im Cabaret Marabu, bis er alle Stücke auswendig konnte.

Als ein Bandoneonspieler erkrankt war, nutzte der 18-Jährige seine Chance, spielte vor und wurde in das Orchester aufgenommen. Er war ein unruhiger, verspielter Geist, Troilo verpasste ihm nicht von ungefähr den Spitznamen ‚Gato’ (Katze).

1942 drängte der frühreife, geniale Piazzolla, der sich permanent in Komposition weiterbildete, auch in die Rolle des Arrangeurs und forcierte die musikalische Entwicklung des Orchesters mit abwechslungsreich orchestrierten Klassikern wie Uno (1943, Marino), Inspiración (1943) oder Chiqué (1943), letzteres mit einem wunderbaren Bandoneonsolo von Troilo als Finale.

Tänzer taten sich mit diesen Arrangements schwer. Das störte Astor nicht, er mochte die Cabarets sowieso nicht, und in seinen Augen bremsten die Tänzer die musikalische Weiterentwicklung des Tango. Schließlich verließ er Troilo im Juni 1944 nicht gerade im Frieden, kehrte aber nach 1950, als der Tango seine Bedeutung als Tanzmusik schon verloren hatte, als wichtigster Arrangeur zurück.

DER SPÄTE TROILO

Musik zum Hören

Die Aufnahmen der mittleren (1949-1960) und späten (1960-1975) Schaffensperiode hören Tänzer höchstens einmal als romantisches Finale eines Tangofestes.
Das Orchester spielte für Kino, Radio und Konzertsäle, aber kaum mehr fürs Parkett.
Die Musik ist nun sinfonisch, komplex, teilweise auch experimentell, Stimmen oder Streicherteppiche stehen im Vordergrund.

Tänzern fehlt die Energie der frühen Jahre – doch genussvolle Hörer erleben in Miniopern wie Responso (1951), das Troilo anlässlich des Todes seines Lieblingstangopoeten Homero Manzi komponierte, oder El Motivo (1962) mit der raubeinigen Stimme von Roberto Goyeneche (1961) und Klassikern wie Inspiración (1957), Nocturna (1957) oder Payadora (1966) großes musikalisches Kino.

Troilo war in seiner späten Phase nach 1960 bis zu seinem zu frühen Tod im Mai 1975 mit Konzertmusik sowie Shows in Fernsehen und Theatern musikalisch aktiv.

Das Troilo-Grela-Quartett

Nach einem bejubelten gemeinsamen Auftritt mit dem Gitarristen Roberto Grela gingen beide nach 1953 zweimal ins Studio. Im Gegensatz zu den sehr reich arrangierten Orchesterstücken reizen diese oft nur nach Absprache, also a la parilla arrangierten Quartett-Aufnahmen dadurch, dass man Troilos frisches, gefühlvolles Spiel mit dem ‚Gardel der Gitarre’ unmittelbar heraushört.


TROILO FÜR TÄNZER

Aus der Vielzahl musikalischer Perlen eine repräsentative Best-of-Liste zu erstellen fällt schwer!

Energiereiche Tangos der frühen 40er
Rhythmische, temporeiche Power-Instrumentalstücke wie Tinta Verde (1938) oder Milongueando en el 40 (1941) leben von Goñis grollenden Piano-Akkorden und lebendigen Arrangements.
Toda mi Vida und Maragata (beide 1941, Fiorentino) sind ebenso unerreichte Klassiker wie Pajaro Ciego (1941), in dem Fiorentino im Duett mit dem unbekannteren Sänger Amadeo Mandarino zu hören ist.

Lyrische Meisterstücke
Mit Alberto Marinos Stimme änderte sich das Repertoire noch stärker hin zu zärtlicheren Einspielungen wie Uno (1943), Torrente (1944) oder María (1945).
Auch wunderbare Tangos mit Fiorentino wie Farol (1943), Gime el viento (1943) und Yuyo verde (1945) oder La noche que te fuiste (1945), gesungen von Fiorentinos Nachfolger Floreal Ruiz, folgen diesem Trend. Sur (1948), Troilos wohl berühmteste Komposition mit der ganz eigenen Stimme Edmundo Riveros, war Troilos liebster gesungener Tango.

Anspruchsvolle Valses
Wie nur wenigen anderen gelang es Pichuco, Valses einzuspielen, wie z.B. Tu diagnóstico (1941, Fiorentino), Valsecito amigo (1943, Fiorentino) oder Flor de Lino (1947, Ruiz), die genretypisch mit großer Energie im Dreivierteltakt vorantreiben und gleichzeitig angefüllt sind mit abwechslungsreichen, anspruchsvollen Spielereien. Seine Komposition Romance de Barrio (1947, Ruiz) zählt zu den schönsten Melodien des Genres.

Milongas für Kenner
Mano Brava (1941, Fiorentino), Ficha de Oro (1942, Fiorentino) und De pura cepa (1942, Instrumental) ergeben eine anspruchsvolle, energiereiche Milonga-Tanda.


Michael Lavocah: Tango Masters: M. Lavocah beschreibt Troilos Schaffen in dieser Monografie umfassend in mitreißendem Stil.


Home



Osvaldo Pugliese

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. ????????
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

 

*02.12.1905 – 25.07.1995
Spitzname: San Pugliese
Status: Avantgarde
Anzahl der Aufnahmen: rund 700
Stil: dramatisch und subtil
Merkmale: Yum-Ba, extreme Wechsel in Tempo und Energie

Spezialität
: virtuose Arrangements und Soli aller Musiker

Größte Hits:
La Yumba, Recuerdo

Wichtige Sänger:

Roberto Chanel (1943- 1948)
    näselnder Feingeist
Alberto Morán (1945 – 1954)
frisch und gefühlvoll phrasierender Schwarm der Frauen
Jorge Maciel (1954 – 1968)
Abel Córdoba (1964 – 1995)

Bedeutender Musiker:

Bandoneon: Osvaldo Ruggiero, Emilio Balcarce
Geige: Enrique Camerano
Bass: Aniceto Rossi

 DER SCHUTZHEILIGE DES TANGO
   
von Olli Eyding

Tango ist ein Baum, der immer Früchte tragen wird, denn er wächst und gedeiht auf fruchtbarem Boden: der Seele der Menschen
Osvaldo Pugliese

Seine Musik begeistert und verwirrt. Sie zählt zum Reichsten und Vielfältigsten innerhalb des Tango Argentino.
In Argentinien verehrten manche ‚San Pugliese‘, der für sein Wohlwollen und seine Milde bekannt war, wie einen Heiligen.
Pugliese und seine Musiker prägten über Jahrzehnte maßgeblich die Entwicklung des Tango und erlebten als einziges der großen Orchester den neuerlichen Tangoboom seit den 1980er-Jahren.
Eine zum richtigen Zeitpunkt gespielte Pugliese-Tanda ist für viele Tänzer der Höhepunkt einer Milonga. Werfen wir einen Blick auf diesen außergewöhnlichen Menschen und seine Musik.

DIE ERSTEN JAHRE

Aus einer armen, kleinbürgerlichen Musikerfamilie stammend, wuchs Osvaldo im Tango-Arbeiterviertel Villa Crespo inmitten von Fabriken und Conventillos auf. Schon im zarten Alter von neun Jahren erwachte seine Leidenschaft für das Klavier. Bald darauf unterstützte er das knappe Familienbudget nicht nur als Schuhputzer und Zeitungsjunge, sondern auch mit Pesos, die er in Cafés und Stummfilmkinos als Pianist verdiente. Wie viele seiner Generation genoss er wenig schulische Bildung und tauchte, noch halb Kind, als Musiker ins Nachtleben des Viertels ein.

Im Frauenorchester

Um 1921 finden wir den Teenager im Orchester der einzigen erfolgreichen Bandoneonistin, Paquita Bernardo. In männlichem Outfit mit Anzug und Krawatte sorgte sie für Aufsehen. Pugliese bewunderte seine Vorbilder Juan Carlos Cobián und Francisco De Caro in den Cafés der Stadt und bildete sich in klassischer Musik und Komposition fort. 1922 ergatterte der 17-Jährige mit einem klassischen Ensemble einen Sendeplatz bei einem der gerade neu entstehenden Radiosender.

RECUERDO - Puglieses größte Kompostion

Nur zwei Jahre später floss aus der Feder des nun 19-Jährigen eine der größten Kompositionen des Tango Argentino: Recuerdo.

Schon mit 15 ersann Osvaldo die charakteristische Eingangsmelodie. Fünf Jahre später veröffentlichte der Vater das Meisterstück unter seinem Namen, Osvaldo war noch minderjährig. Recuerdo mit seinem einzigartigen musikalischen Reichtum wurde ein großer Hit, und Pugliese ein berühmter Mann, vor allem weil Recuerdo in den Händen des Avantgarde-Sextetts von Julio de Caro seine Kraft entfaltete. Aus Dankbarkeit übernahm Pugliese 1944, fast 20 Jahre später, De Caros Arrangement fast unverändert für seine erste und wohl auch beste von drei Einspielung. Dutzende Orchester ließen und lassen sich von den vielschichtigen Melodien, Harmonien und rhythmischen Spielereien zu herausragenden Versionen inspirieren. Darunter finden sich traditionelle vom Orquesta Tipica Victor (1930), experimentelle von Horacio Salgán (1950), dramatische von Color Tango (2007) oder romantische Versionen mit Gesang von Osvaldo selbst (1966, voc: Jorge Maciel) oder, für mich am herausragendsten, von Fulvio Salamanca (1959, voc: Armando Guerrico+Luis Correa)

Der Gewerkschafter

Bevor Pugliese 1939 sein berühmtes eigenes Orquesta Típica gründete, finden wir ihn als Pianisten bei Pedro Maffia, Pedro Laurenz und Miguel Caló. Mehrere von ihm in den 30er-Jahren angestoßene Orchesterprojekte lösten sich bald wieder auf.
Denn in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach 1930 überlebten viele Musiker nur mühsam und unter oft ausbeuterischen Bedingungen. Arbeitszeiten von 18.00 Uhr bis 6.00 Uhr am nächsten Morgen, meist nur unterbrochen von einer Essenspause, waren üblich, und das an sieben Wochentagen.
Doch Pugliese wurde aktiv. Er glaubte an die Kraft des Kollektivs und des gemeinsamen solidarischen Handelns. Daher gründete er eine Musikergewerkschaft, organisierte Streiks und erreichte Verbesserungen.
Von nun an war er ein ‚Aufwiegler‘. Arbeit fand sich noch schwerer. Osvaldo war ein konsequenter Mensch, der immer zu seinen Überzeugungen stand. Und so überrascht es nicht, dass er 1936, anlässlich des Spanischen Bürgerkriegs, in die kommunistische Partei eintrat. Im selben Jahr heiratete er seine erste Frau Mariá Concepción Florio. Seine ihm sein Leben lang auch musikalisch eng verbundene Tochter Beba Pugliese ist noch heute als Tango-Musikerin aktiv.

DAS KOLLEKTIV

Nachdem er nur fünf Tage zuvor aus politischer Haft entlassen worden war, debütierte Pugliese im August 1939 mit seinem neuen Orchester im Café Nacional, damals bekannt als La Catedral del Tango.

Bezahlung nach Punktesystem
Pugliese war Kommunist,  und so organisierte er zeitlebens seine Orchester als Kollektiv: Die Bezahlung richtete sich nach einem Punktesystem. Prämiert wurden natürlich Auftritte, aber auch Komposition, Arrangement und Verweildauer. Punktabzug gab es z.B. für Unpünktlichkeit. Dies sicherte Qualität und Innovation und sprach herausragende Musiker an, die dem Orchester über Jahrzehnte treu blieben. So verdiente Osvaldo Ruggiero, wichtigster Bandoneonspieler, aufgrund seiner zahlreichen Kompositionen und Arrangements zeitweise mehr als der Maestro selbst. Auch die Arbeit an der Musik erfolgte kollektiv. Neue Stücke wurden gemeinsam arrangiert, die Solisten brachten selbst Ideen ein. All das schweißte zusammen, so dass die Band auch Zeiten der politischen Verfolgung überstand.

Zusammenhalt in Zeiten politischer Verfolgung
Der Maestro selbst saß wiederholt monatelang im Gefängnis und wurde von den autoritären, rechtsgerichteten Militärjuntas immer wieder mit Auftritts- und Aufnahmeverboten belegt. Durfte Osvaldo selbst nicht auftreten, so erinnerte stets eine Rose auf dem Klavier an seine Abwesenheit, andere Musiker der Band übernahmen gelegentlich den Klavierpart. Oft genug musste auch die ganze Band vor der Polizei flüchten. Eines Abends verhandelte ein Veranstalter mit der Polizei und erreichte, dass diese erst nach dem Ende des nächsten Tangos zugreifen dürfe. Die eingeschworenen Musiker spielten daraufhin so lange La Cumparsita, bis die Polizei wieder abzog.

DIE MUSIKER

Osvaldo Pugliese
In Puglieses Klavierspiel spiegelt sich sein Wesen: Er drängte sich mit seinen Fähigkeiten nie in den Vordergrund, ließ seinen Musikern viel Raum – aber alles, was er spielte, war wesentlich. Als kleiner, zierlicher Mensch rührte er die Menschen mit seinem einfühlsamen Spiel, konnte aber auch mit beeindruckend brachialer Gewalt ausdauernd die tiefen Akkorde ins Klavier hämmern, die so entscheidend für den Yum-Ba-Sound Puglieses sind.


Osvaldo Ruggiero,
Bandoneon, war erst 17 Jahre alt, als er 1939 in das Orchester eintrat. Sein Beitrag zur Entwicklung des Pugliese-Sounds war entscheidend. Viele Kompositionen und Arrangements gehen auf ihn zurück. Gemeinsam mit Jorge Caldara leitete er musikalisch, energisch und manchmal wild die langen Haare schleudernd die fila de banondeón, sodass die Fans (jedes Orchester hatte damals seine barra, seine Gang) durchdrehten.

Enrique Camerano,
Geige, trug den Spitznamen ‚El Gitano‘ – der Zigeuner. Er verfügte über einen fantastischen Ton in allen Lagen. Er spielte weich und melodisch, hatte ein wunderbares Vibrato und eine so versierte Bogentechnik, dass er jeden einzelnen Ton mit einer eigenen Betonung phrasieren konnte.

DIE SÄNGER

Roberto Chanel,
lang, dünn, mit riesiger Nase, was ihm den Spitznamen ‚El Turco‘ einbrachte, war wenig attraktiv. Doch mit seinem filigranen, etwas näselnden Gesang, den er zu Hause mit der Gitarre an seinem Vorbild Gardel schulte, schlug er die Menschen in seinen Bann.

Alberto Morán
konnte, als er mit 23 Jahren im Orchester begann, nicht nur wunderbar singen. Er war auch ein Womanizer, der alle Emotionen der von ihm gesungenen Texte beim Singen dramatisch miterlebte, wofür ihn die Frauen liebten. Das Orchester gewann durch ihn viele neue Fans.

Jorge Maciel
hinterließ Perlen wie Remembranza (1956) oder Cascabelito (1955).

Abel Cordoba
setzte sich 1964 in einem gigantischen Casting gegen 300 anderen Kandidaten durch und begleitete Pugliese über 31 Jahre bis zu den letzten Auftritten 1995.

DIE MUSIK

Zwar startete das Orchester 1939, aber erst 1943 kam ein Plattenvertrag zustande. Die 74 Aufnahmen, die bis 1947 entstanden, dokumentieren die stetige Entwicklung und Reifung. Repertoire und Struktur der Stücke folgten, weicher und weniger krass, zunächst der Tradition Julio De Caros.

Mit La Yumba (1946), Negracha (1948) und Malandraca (1949) ging das Orchester dann ganz eigene Wege. Extrem rhythmische, wie eine Maschine stampfende Passagen in Yum-Ba-Phrasierung, wechseln mit melodiösen, kaum mit Beat unterlegten Abschnitten oder legen sich übereinander. Ständig werden Spannung und Dramatik aufgebaut und wieder aufgelöst.

Der Yum-Ba-Sound
Von nun an war das lautmalerisch gebildete YumBa Puglieses Markenzeichen. Dabei spielt das Orchester den ersten und dritten Beat (Yum) extrem schwer, breit und wuchtig mit einem brachialen Arrastre (=anschwellende Intonation ), während der zweite und vierte Beat (Ba) mit einem tief im Bass lauernden leichteren Grollen antwortet.

Pugliese entwickelte diesen Stil immer weiter. In De Floreo (1950) werden der Wechsel, das Ineinanderfließen von Anspannung, Dramatik, ja Aggression mit weichen, luftigeren Passagen immer subtiler, die Harmonien komplexer.
Polyrhythmische und polyphone Strukturen verdichten die Musik. Pugliese und seine Musiker schichteten Klanggruppen und Rhythmusmuster übereinander und ineinander und überwanden immer mehr das für den Tango typische Bauprinzip.
In Notenform lässt sich der Charakter diese Musik nicht notieren. Die Rubatos, also Verzögerungen und Beschleunigungen, wie auch der ständige Wechsel in der Dynamik, also der Lautstärke, gelangen nur, weil die wichtigsten Musiker jahrzehntelang intensiv gemeinsam spielten und probten.

Vorbild für andere Orchester
Die meisten bekannten Orchester der 80er- und 90er-Jahre, so z.B. das ‚Sexteto Mayor‘ oder ‚Color Tango‘, orientierten sich in ihrer Spielweise an Pugliese, erreichten aber selten dessen Tiefe und Reife. Pugliese war eben Perfektionist, seine Musiker berichten, dass sie oft Stunden an einer einzigen Phrase arbeiteten.

DIE SPÄTEN JAHRE

Sexteto Tango
Krank und müde musste sich Pugliese 1968 zurückziehen. Er empfahl seinen besten Leuten, sich zwischenzeitlich als Sextett durchzuschlagen. Doch ihr Erfolg war so groß, dass seine jahrelangen Gefährten sich schließlich als Sexteto Tango selbstständig machten.
Pugliese musste von vorne anfangen und stellte mit Unterstützung seiner Tochter ein neues Orchester auf die Beine. Und es klang wieder grandios.


DAS KONZERT IM TEATRO COLÒN

Das Teatro Colón war und ist der Musen-Tempel von Buenos Aires, Treffpunkt der Upper Class, Veranstaltungsort der Hochkultur, vergleichbar mit der Carnegie Hall in New York oder der Mailänder Scala. So war es natürlich eine finale Genugtuung für den jahrzehntelang geächteten Kommunisten, dass er anlässlich seines 80. Geburtstags in den heiligen Hallen ein Konzert geben durfte, das dann, Witz der Geschichte, wegen eines von der Gewerkschaft organisierten Streiks um eine Woche verschoben werden musste.
Die 3.500 Tickets waren jedenfalls binnen eines Tages verkauft, letztendlich drängten 5.000 Menschen in den Konzertsaal, um den Meister zu feiern. Noch heute rühren die Bilder und die Musik zutiefst und zeugen von Größe und Zurückhaltung des Menschen und Musikers Osvaldo Pugliese. (Fußnote Youtube)

TOURNEEN
Musik verbindet, davon war San Osvaldo überzeugt. Schon 1959 tourte er durch die kommunistischen Länder UdSSR und China. Die Japaner waren 1964 so begeistert, dass aus den 45 geplanten Shows 135 wurden. Aufgrund der politischen Entspannung in Argentinien und des neu entflammten Interesses am Tango in den 80er-Jahren ging das Orchester und mit ihm der über 80-jährige Maestro regelmäßig auf Reisen und feierten unter anderem in Kuba, China, Chile, Japan, Spanien, Frankreich oder den Niederlanden große Erfolge.

DIE PERSON
Pugliese war für seine Bescheidenheit berühmt. Er liebte die Menschen, aber für seine Überzeugungen, und dazu zählte natürlich seine Musik, trat er mit absoluter Konsequenz ein. Seine Proben waren oft intensiv, teilweise agierte er streng, war aber oft auch sehr witzig. Und jedem Bandmitglied war klar: Ein Verlassen des Orchesters war endgültig, ein Zurück gab es nicht. Dies galt auch für die Musiker des ‚Sexteto Tango‘, die über Jahrzehnte mit Pugliese alle Erfolge, aber auch alle Verfolgungen geteilt hatten.
Truco, ein dem Poker ähnliches argentinisches Kartenspiel, zockte Osvaldo immer wieder mit großer Leidenschaft, Ausdauer und frech bluffend.


DER HEILIGE

Sein Leben lang war San Osvaldo wegen seiner politischen Einstellung verfolgt worden, hatte aber nie seine Ideale verraten. Dazu gehörte Mut angesichts der willkürlichen Verfolgungen und den zehntausenden von Menschen, die während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien oft spurlos verschwanden. Achte auf deine Hände, warnten ihn seine Freunde immer wieder, angesichts der alltäglichen Folter keine unbegründete Sorge.
Weil er trotz seiner aufrechten Haltung die Repressalien schadlos überlebte, sahen die Menschen in ihm einen Glücksbringer und Schutzengel, San Pugliese eben. Michael Lavocah schreibt, dass Musiker in Argentinien sich mit „Pugliese!, Pugliese!, Pugliese!“ Glück für den Auftritt wünschen und seit den 80ern immer wieder Heiligenkarten gedruckt wurden, die Pugliese als Schutzheiligen der Musiker darstellen.


DAS ENDE

Pugliese litt zunehmend unter seinem schlechten Gehör, viel mehr aber noch darunter, dass so viele seiner alten Freunde und Weggefährten nicht mehr lebten.
Er verstarb 1995 in Buenos Aires, begleitet von seiner zweiten Frau Lydia.
Die halbe Stadt nahm, während La Yumba gespielt wurde, Abschied. Denkmäler wie auch eine nach ihm benannte Metro-Station halten die Erinnerung an diesen großen Menschen lebendig.


PUGLIESE FÜR TÄNZER

Puglieses Schaffen schlug sich in knapp 700 Aufnahmen aus fünf Jahrzehnten nieder, die den Tänzerinnen und Tänzern immer ein gewisses, meist aber ein großes Maß an Interpretationsmöglichkeiten bieten, aber auch abverlangen. Puglieses Repertoire bestand vorwiegend aus Tangos.

Valses

Desde el Alma (1979) lässt Herzen schmelzen. Dass Pugliese seine Fans mit äußerst feinen, anspruchsvollen, ungewöhnlichen und lyrisch zu tanzenden Valses begeisterte, zeigt eine Tanda mit dem Sänger Alberto Morán bestehend aus Ilusión Marina (1947), Dos que se aman (1948) oder La noche que me esperes (1952).

Tangos

In den 1940ern erblühten in den Händen des Orchesters unter anderem Julio de Caros Instrumentalklassiker neu. Pugliese interpretiert sie weniger scharf, feiner und mit stetigerem Beat.
Hierzu zählen Mala Junta (1943), Tierra Querida (1944), El Monito oder Boedo (1948). Dazu gesellen sich Puglieses Komposition Recuerdo (1944) sowie das absolute Ausnahmestück La Tupungatina (1952).

Hits mit dem Sänger Roberto Chanel wie Farol (1943), Corrientes y Esmeralda (1944) oder Rondando tu esquina (1945) enthalten zwar schon viele der für Pugliese typischen musikalischen Elemente, sie entsprechen aber ebenso noch dem für gesungene Tangos üblichen Muster wie Alberto Moráns Perlen Yuyo verde (1945), El Abrojito (1945) oder das grandiose Una vez (1946) mit einer magischen Rhythmisierung des Compás in Sechzehntelnoten.

Puglieses Werk ist zu umfangreich, um seine Vielfältigkeit hier auch nur anzudeuten. Hören Sie z.B. Patético (1948), Canaro en París (1949) mit einem sensibel gespielten Bass-Solo, Cascabelito (1955) und Remembranza (1956), gefühlvoll interpretiert vom großen Jorge Maciel oder die Klassiker Nochero Soy (1956), La Mariposa (1966) oder Zum (1973).

Michael Lavocah: „Osvaldo Pugliese“, 2017
Lavocah hat mit seinen Büchern das Interesse für die Geschichte der Tangomusik und ihrer großen Orchester geweckt und zugänglich gemacht. Dies gilt umso mehr für diese faszinierende Monografie.

www.tangotunes.de stellt für die Zeit von 1943 bis 1947 die besten Transfers zur Verfügung

Zu Puglieses 100. Geburtstag erschien die ‚Edición Aniversario‘.
Diese vier CDs bieten für wenig Geld eine gelungene Auswahl von 100 Stücken in guter Qualität.



Home



LUCIO DEMARE

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. ????
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

  *28.10.1907  +24.05.1972
*09.08.1906  +06.03.1974
Anzahl der Aufnahmen: 93
Stil: Stakkato-Geigen treffen auf subtile Melodien

Merkmale
: teilweise ‚orientalischer‘ Klang, synkopierte Rhythmen, jazzartige Geigenriffs

Spezialität
: romantische Klaviersoli, extrem präzise Bandoneonsätze

Größte Hits:
Malena (1942)

Wichtige Sänger:
Juan Carlos Miranda (1938-1942)
Raúl Berón (1943)
Horacio Quintana (1944-1945)

Bedeutender Musiker:
Piano: Lucio Demare
Bandoneon/Arrangement: Máximo Mori
Geige: Raúl Kaplún, (1942-1946)

 PERFEKTIONIST UND STILIST - FILMMUSIKER
   
von Olli Eyding

Der Pianist Lucio Demare trieb die Entwicklung des Tango zwar nicht so voran, wie die ‚Großen Vier‘ D‘Arienzo, Di Sarli, Troilo und Pugliese.
Doch sein ganz eigener, unverwechselbarer, oft magischer Sound rührt die Herzen.
Tänzer lieben seine Musik, die kunstvoll in präzisen Arrangements rhythmische Spielereien mit subtilen Melodieführungen kombiniert. Doch Demares Leben und musikalisches Schaffen stehen auch exemplarisch für die vielen Wege, auf denen sich Tango nicht nur in Argentinien, sondern auch in Europa entfaltete.

DAS ORQUESTA TÌPICA
1938 stellte Demare ein starkes Orchester auf die Beine, das ihn berühmt machen sollte. Doch nicht nur Demares Erfolgsstory begann in den Jahren 1937/1938, die man durchaus als Schlüsseljahre der Tangoentwicklung bezeichnen kann. Neben manch anderen gründeten in diesen Jahren auch Carlos di Sarli, Pedro Laurenz, Rodolfo Biagi, Aníbal Troilo oder Ricardo Malerba ihre Orchester, mit denen sie in den nächsten Jahren Tangogeschichte schrieben. Auslöser war natürlich der ‚Rey del Compás‘, Juan D’Arienzo, mit seinem Pianisten Rodolfo Biagi, die mit schnellen, rhythmischen, zackigen Tangos in Buenos Aires und ganz Argentinien ein Tanzfieber ausgelöst hatten, das für viele Jahre die Existenz zahlreicher Musiker sichern sollte. Aber auch sonst standen die Zeichen 1937 auf Neuanfang. Die Jahre zuvor waren für viele Musiker frustrierend, es gab wenige Jobs, viele Combos bestanden nur für kurze Zeit. Schuld war der Tonfilm, er hatte ab 1930 Musiker, die in Kinos spielten, überflüssig gemacht. Und natürlich hatte der New Yorker Börsencrash von 1929 auch die Wirtschaft Argentiniens hart getroffen. Argentinier nennen die Dreißiger, die zusätzlich von korrupten, machthungrigen Politikern und innenpolitischen Krisen geprägt ist, die ‚Infame Dekade‘.


DIE MUSIK

Tänzer liebten Demares Musik schon damals wegen des ganz eigenen Charakters und strömten in Cafés und Cabarets, aber auch Sendeplätze im Radio sicherten ihm Bekanntheit im ganzen Land. Odeón, Demares Plattenlabel, produzierte 1938 zwei Schellacks. Wie Aníbal Troilo oder Pedro Laurenz gewährte Odeón Demare für Jahre keine weitere Aufnahmen. Erst 1941 scharte sich das Orchester wieder um ein Mikrofon.

Nur wenige Aufnahmen
Weil höchste Qualität und die Verwirklichung seiner Ideen für den Perfektionisten Demare immer Vorrang vor kommerziellem Erfolg hatten, begab er sich nur ins Studio, wenn er von einem Titel absolut überzeugt war. Und so wurden von seiner wunderbaren Musik zwischen 1938 und 1945 nur 65 Titel ins Wachs geschnitten.

Ein unverwechselbarer Sound
Schon in den ersten Aufnahmen aus dem Jahr 1938 wie Telón und Din Don mit seinem ersten Sänger Juan Carlos Miranda oder der Instrumentalnummer La Racha findet sich das Charakteristische des Demare-Sounds: Von den Streichern im Stakkato gespielte, synkopierte rhythmische Phrasen, die sich teilweise in regelrechte Energie-Eruptionen steigern, kontrastieren mit wunderschön gesungenen oder von den Geigen gestrichenen Melodien und Gegenmelodien.
Weiche und eher rau gespielten Passagen folgen aufeinander in raschem Wechsel. Einer Dominanz der Geigen stehen kurze, druckvolle Bandoneon-Passagen gegenüber.
Und überall dazwischen taucht das elegante Klavierspiel Demares auf, mal romantisch melodiös perlend, mal in den tiefen Registern kraftvoll den Beat markierend, aber immer äußerst exakt und gefühlvoll.
Demares wunderbare Komposition Solamente Ella (1944, Quintana) vereint beispielhaft diese Elemente.

Demaras Musik basiert auf einem insgesamt stetigen Compás. Energie und Dynamik weisen eher kleinere Schwankungen auf, es gibt wenige Soli. Hier zeigt sich der Einfluss seines Mentors Francisco Canaro. Aber die Magie, die musikalischen Abenteuer finden sich im Detail, in den filigranen, subtil auskomponierten, rhythmisch differenzierten Phrasen und feinfühlig vorgetragenen Melodien. Spätere Aufnahmen sind meist noch lyrischer.

DIE MUSIKER

Demare, ein begnadeter Pianist, der sein Orchester vom Klavier aus dirigierte, hatte einige großartige Musiker an seiner Seite.

Máximo Mori
war von Anfang an dabei. Er prägte nicht nur mit seinem vollendeten Bandoneonspiel den Sound des Orchesters, sondern übernahm auch die in einem Tangoorchester so wichtige Rolle des Arrangeurs und war damit für die Orchestrierung und Verteilung der musikalischen Anteile zwischen den Instrumenten und Stimmen verantwortlich.
Er war erst 22 Jahre alt, als er 1938 zu Demare stieß.
Zuvor hatte er sich seine Sporen schon bei großen Namen wie Miguel Caló, Manuel Buzón oder Antonio Rodio verdient.
Mori, seinem engen Freund Demare bis zu dessen Tod musikalisch verbunden, war Lebemann, Nachtmensch und ein solcher Kettenraucher, dass seine vom Nikotin gelb gefärbten Finger, mit denen er sein Bandoneon bearbeitete, legendär waren.

Raúl Kaplún,
der als Begründer der virtuosen Tango-Geige gilt, wechselte 1942 von Miguel Caló zu Demare und verlieh von nun an den rhythmisch anspruchsvollen, in scharfem Stakkato gespielten, manchmal auch leicht dreckig klingenden Geigenriffs, die immer ein wenig an funkige Bläsersätze erinnern, noch mehr Schliff.
Das so typische Arrastre der Geigen wurde noch pointierter.
Nach 1945 übergab Demare ihm und dem Sänger Quintana das Orchester.

DER JUNGE DEMARE

Als Demare sein Orquesta Típica 1938 gründete, war er kein Unbekannter in der Szene, schließlich trat der erst 32-jährige Pianist schon seit fast einem Vierteljahrhundert vor Publikum auf.

Das Tango-Viertel Abasto war Heimat der aus Italien stammenden Familie. Schon früh unterrichtete der Vater, selbst professioneller Geiger, seinen Sohn. Bald konnte den musikalischen Hunger des Kleinen, der oft genug über dem Klavierspiel das Essen vergaß, nur der legendäre Klavierpädagoge Vicente Scaramuzza stillen, der übrigens auch Osvaldo Pugliese, Horacio Salgán oder Orlando Goñi in die Geheimnisse rund um die schwarzen und weißen Tasten einweihte. So wundert es nicht, dass Lucio schon im zarten Alter von acht Jahren im benachbarten Kino von Nachmittag bis Mitternacht Stummfilme begleitete, für 40 Pesos im Monat. Eine Weile gab er sogar den Schiffsmusiker auf einem Dampfer, der zwischen Montevideo und Buenos Aires pendelte. Gesetze, die vor Kinderarbeit schützten, spielten im jungen Argentinien noch keine Rolle oder wurden nicht beachtet.


Der kleine Jazzer
Tangos, die Musik der Straße bzw. der Erwachsenen, zählten noch nicht zum Repertoire, das aus Opern-Bruchstücken und klassischen Liedern bestand, war der Vater doch ein großer Fan italienischer Musik. Doch als Vorformen des Jazz von Norden aus den USA ihren Weg an den Río de la Plata gefunden hatten, schlugen sie auch den jungen Pianisten in ihren Bann. Mit 13 sorgte er am Piano eines Dixieland-Orchesters für den nötigen Swing.

Sein Ehrgeiz, sein unermüdliches Üben und Studieren lohnten sich. Adolfo Carabelli, eine der Schlüsselfiguren des argentinischen Jazz wie auch des Tango der 20er-Jahre, entdeckte den jungen Musiker und platzierte ihn am Piano seiner Firstclass-Jazzcombo. Nun klimperte der Siebzehnjährige, der eigentlich noch kurze Hosen hätte tragen müssen, Nacht für Nacht im angesehen Cabaret Ta-Ba-Ris Swing und Boogie für die Haute-Volée der Stadt. Mit von der Partie war übrigens Juan D’Arienzo, der sich Mitte der Zwanziger als Jazzgeiger durchschlug.

Wanderjahre im Windschatten Canaros
Die meisten Cabarets hatten zwei Bühnen, eine für Jazz, eine für Tango. Und im Ta-Ba-Ris saß auf der anderen Seite das Orquesta Típica vom Tango-Kaiser Francisco Canaro.
Abend für Abend hörte Demare die neue Musik. Sie faszinierte ihn.
Es war der Bandoneonspieler Minotto Di Cicco, Canaros wichtigster Musiker, der den jungen Jazzer noch nach den Auftritten nachts um 3 Uhr so erfolgreich in die Tricks und Geheimnisse des Tango-Spieles einweihte, dass Canaro den Jungen Demare zusammen mit seinem Geige spielenden Vater mit nach Paris nahm, dem Sehnsuchtsort aller Südamerikaner.
Die Brüder Juan und Rafael Canaro hielten dort den europäischen Zweig des Canaro-Imperiums in Schwung.

Die Zeit in Paris
war cool, aber auch hart. Oft spielte der 21-Jährige von 17 Uhr bis 4 Uhr morgens, konnte sich aber – wir schreiben das Jahr 1927! – schon nach wenigen Monaten ein eigenes Auto leisten, in solchen Strömen ergoss sich das Geld über die hippen, als Gauchos verkleideten Porteños. Ein Höhepunkt dieser mehr als aufregenden Jahre war ein Auftritt mit dem Superstar Carlos Gardel im angesehenen Cabaret Ambassador, denn Gardel präsentierte mit dem jungen Pianisten am Klavier dessen erste erfolgreiche Komposition Dandy.


DAS TRIO ARGENTINO

Es war Francisco Canaro, der sein schon berühmtes Sängerduett Agustín Irusta und Roberto Fugazot, die sich selbst auf der Gitarre begleiteten, mit dem jungen Pianisten in Paris zu einem äußert populären Trio formte.
Nach einer fulminanten Konzertserie in Madrid schlugen sie in Spanien Wurzeln, sangen sich im Gaucho-Kostüm mit ihren zarten Stimmen in alle Herzen und waren für die nächsten Jahre das Aushängeschild des Tango in Spanien.
Radio-Auftritte machten sie zu Stars, die rund 50 Tangos, Valses und Milongas, die zwischen 1928 und 1934 entstanden, gingen weg wie frische Empanadas.
1937 endete die Zusammenarbeit mit Irusta und Fugazot. Doch 1945 gingen sie erneut auf Tournee, wofür Demare sogar sein Orchester aufgab.


DIE WELT DES FILMS

Selbst Hollywood warb Anfang der 30er-Jahre um die drei jungen Argentinier, um in Anlehnung an Gardels Erfolge Musical-Filme zu produzieren.
Doch diese stellten lieber zwei eigene Filmprojekte in Spanien auf die Beine. Das erste, Boliche (1933), sorgte als erster Erfolg des spanischen Tonfilms durchaus für Furore, wenn auch andere die Profite abgriffen. Es war eine Art Road Movie, dessen Plot vor allem darauf abzielte, die schon aus dem Radio bekannten Hits zum Besten zu geben. Lucio war nicht nur schauspielender Musiker, er komponierte auch die Filmmusik, und es sollte nicht seine letzte sein. Denn auch sein Bruder Lucas, der wie der Vater Geige spielte, entdeckte während der achtmonatigen Produktion seine Passion für den Film, entwickelte sich in den kommenden Jahren zu einem der wichtigsten Regisseure Argentiniens und vertraute seinem Bruder Lucio viele dutzende Male die Vertonung seiner Werke an. Vielleicht liegt es auch an diesem zweiten Standbein, dass Demare die Karriere seines Tangoorchesters nicht ganz so intensiv verfolgte.

Der Spanische Bürgerkrieg führte die Argentinier schließlich 1936 zurück in die Heimat, wo Freund und Förderer Canaro sie sofort in seinen zahlreichen Shows und Filmen einsetzte, bis sich Demare 1938 aufmachte, um seine eigenen musikalischen Vorstellungen zu verwirklichen.

DER KOMPONIST

Schon der Teenager versuchte sich an Foxtrotts und Pasadobles. Und Dandy, ein Tango, den der Zwanzigjährige in Paris schrieb, schaffte es ins Repertoire von Gardel oder Osvaldo Pugliese (1945, Chanel). Zu Beginn der 40er-Jahre mischte sich Demare mit dutzenden Tangos und Milongas unter die ganz großen Tango-Komponisten. Zahlreiche bis heute unsterbliche Klassiker wie Telón, Hermana, Mañana zarpa un barco, Solamente ella, Tal vez será mi alcohol und natürlich Malena flossen aus seiner Feder.
So wie er sich als Filmmusiker von Bildern inspirieren ließ, komponierte er gerne zu Texten, und am liebsten waren ihm die metaphorisch aufgeladenen Zeilen seines Freundes und großen Poeten Homero Manzi. Als dieser ihm die Textzeilen von Malena, Demares größtem Hit, übergab, fiel ihm lange nichts ein. Um seinen Freund nicht zu enttäuschen, wollte er wenigstens schon einmal eine Idee zu Papier bringen, setzte sich in ein Café an der Ecke, und, so berichtet er in einem Interview, schrieb die Musik zu Malena in einem Satz in nur 15 Minuten.


DIE SPÄTEN JAHRE

In den 60ern, als Tango kein Massenphänomen mehr war, finden wir Demare, den die Leidenschaft zu den Tasten nie verlassen hatte, als Pianist in den wenigen noch bestehenden Tangokneipen von Buenos Aires. Oft stand er zusammen mit der Sängerin ‚Tania‘ auf der Bühne des von ihr geleiteten Lokals Cambalache, wo sich auch die Freunde aus alten Tagen, Máximo Mori und Ciriaco Ortíz, einfanden. Später führte Demare seine eigene Bar, Malena del Sur in San Telmo im Zentrum der Stadt, wo er als Solo-Pianist auftrat.2

DIE MUSIK

Tangos
Demares Werk ist überschaubar, sein Stil variiert zwischen 1938 und 1945 nur wenig.

Juan Carlos Miranda
In diesen frühen Tangos wie Telón, Din Don (1938) oder auch Al compás de un tango (1942) steht der Rhythmus noch mehr im Vordergrund, sein Meisterwerk lieferte Miranda 1942 mit Malena.

Raúl Berón
Mit 27 Titeln war Raúl Berón wichtigster und erfolgreichster Sänger. Im Gegensatz zu Miranda und Quintana war er schon zuvor mit Caló und auch später mit Francini-Pontier erfolgreich. Doch sein eher lieblicher, etwas freier schwebender Gesangsstil scheint zwischen den ebenso freien Melodielinien des Orchesters nicht immer genug Halt zu finden. Perlen wie Canta Pajarito, El Pescante (1943) oder Tal vez será su voz (1943) bestechen durch die feinen, gefühlvollen Arrangements.

Horacio Quintana
Er fügt sich besser in das Orchester ein. Einige der 1944 entstandenen Tangos überraschen mit einem etwas orientalischen Touch. Bei Oriente ist der Titel natürlich schon Programm, aber auch Alhucema, Están sonando las ocho oder Igual que un bandoneón haben dieses Orient-Feeling, das unter anderem durch die Verwendung entsprechender Harmonien wie dem harmonischem Moll entsteht.

Valses
Demares leichte, melodiöse Valses Se fue und Al pasar (1943, Berón) oder Dos corazones (1944, Quintana) lullen Tänzer mit wunderschönen, verspielten Melodielinien ein, ohne auf feine rhythmische Phrasierungen zu verzichten. Romantik pur.

Milongas
Demares Milongas sind anspruchsvoll: Ein hohes Tempo und die dynamischen, abwechslungsreichen Phrasierungen verlangen genaues Zuhören, saubere Tanztechnik und gute Kommunikation im Paar. Neben klassischen Milongas wie der coolen La esquina (1938) oder Señores, yo soy del centro (1944, Quintana) war Demare auch ein Fan der um 1940 populären ‚Milonga Candombe‘. Beispiele hierfür sind das zum Tanzen leider zu schnelle, ganz wunderbare Negra María (Miranda, 1941) oder Carnavalito (1943, Berón).


Home


MUSTER

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 71 -  03/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

  *28.10.1907  +24.05.1972
Status:
Stil:
Merkmale:
Spezialität:
Größter Hits:
Wichtigste Sänger:
-   
Wichtigste Musiker:
-    Pi

 MUSTER
   
von Olli Eyding

lnm,n.m







Home




MUSTER

Der vollständige Text erschien in Tangodanza Nr. 71 -  03/2017
Diese Ausgabe kann bei Tangodanza im Kiosko bezogen werden.

  *28.10.1907  +24.05.1972
Status:
Stil:
Merkmale:
Spezialität:
Größter Hits:
Wichtigste Sänger:
-   
Wichtigste Musiker:
-    Pi

 MUSTER
   
von Olli Eyding

lnm,n.m







Home


Florindo Sassone (von Olli Eyding)
Frühjahr 2018


(12.01.1912 – 31.01.1982)
Er zählt nicht zu den Top Ten der großen Orchester des Tango Argentino, doch in den 50 Jahren seiner Karriere stand er in der Publikumsgunst immer mal wieder ganz oben.

Die erste und oft einzige Begegnung mit seiner Musik sind in der Regel von Streichern geprägte wuchtige Aufnahmen der großen Di Sarli-Hits, die Sassone, für manche etwas befremdlich, mit Harfe, Vibraphon und Schlagzeug noch zusätzlich und manchmal auch etwas reichlich instrumentiert. (Man findet diese Musik auf der Reliquias-CD Florindo Sassone: Bien Milonguero 01 und 02) oder auf der CD Florindo Sassone der Serie From Argentinia to the World

Doch Sassone hat mehr zu bieten.

Sassone für Tänzer:
1947 – 49 mit Jorge Casal: Tanzen zum zweiten Carlos Gardel
Volver (1947)
Canción de cuna (1947)
Rencor (1949)
Y... volvemos a querernos (1949)
oder mit Roberto Galé
Intimas (1951)

1966: Sexteto Don Florindo – Rhythmus, Eleganz, Energie
El polito
La morocha
El irresistible
Nuevo de julio
La Cumparsita

60er Jahre – Gran Orquesta – der andere Di Sarli
A la gran muñeca (1966)
El Amenecer (1966)
Felicia (1966)
El Relámpago (1966, Komponist: Florindo Sassone)
...
Wie alles anfing:

Als Sohn italienischer Eltern aus dem Piémont wuchs er im Barrio Liniers von Buenos Aires auf, begeisterte sich früh für Musik, lernte ab dem 8. Lebensjahr Geige und Harmonielehre, sodass er mit 18 Jahren als ausgebildeter Musiklehrer galt. Noch im selben Jahr, 1930, tauchte er im Zentrum, das er mit der Tranvia (=Straßenbahn) gut erreichen konnte, in das musikalische Tango(-nacht-)leben ein. Nach einem Jahr bei Antonio Polito spielte er bei Firpo, bis Osvaldo Fresedo 1932 von seinem Talent so überzeugt war, dass er Sassone in die Reihe seiner Geigen aufnahm. Sassone wurde von der eleganten, feinen Art, wie Fresedo Tango behandelte, dauerhaft geprägt. Im Januar 1936 debütierte Sassone mit seinem ersten eigenen Sextett aus Freunden und Bekannten, indem laut www.todotango.com auch Fresedo Bandoneon spielte, was bei dessen  damaligen Aktivitäten und Erfolgen mit seinem eigenen Orchester eher unwahrscheinlich erscheint.

Mit dem Sänger Alberto Amor als Frontmann, der seine größten Erfolge mit Biagi feierte, hatte sich Sassone einen Sendeplatz bei Radio Belgrano gesichert. Dies war der erste Schritt für eine sichere Existenz, ins Aufnahmestudio schaffte er es aber noch nicht. Er selbst legte von nun an die Geige zur Seite und beschränkte sich aufs Dirigieren und Organisieren, experimentierte wie Fresedo mit Harfe und Schlagzeug, erhielt einen täglichen Mittags-Sendeplatz beim anderen großen Radiosender El Mundo und trat im Zentrum in der Calle Corrientes sowohl im Cabaret Marabu als auch im Café National, genannt La Catedral del Tango, auf.
Doch dann, zwischen 1940 und 1946, also gerade in den Jahren, in denen die anderen Orchester ihre größten Juwelen einspielten, widmete er sich Tätigkeiten außerhalb der Tangowelt, wovon allerdings nichts überliefert ist.

Florindo Sassone war Jahrzente mit seiner Frau Maria verheiratet, machte bis 1979 Aufnahmen und verstarb mit erst 70 Jahren am 31.Januar 1982. Nur wenige Tangos stammen aus seiner Feder, die bekanntesten sind die Milonga Baldosa Floja und El Relámpago.

Starke Jahre mit Jorge Casal, dem neuen Gardel

1946 kehrte Sassone in die Welt des Tango zurück. Die Musik hatte sich während seiner Abwesenheit deutlich weiterentwickelt. Die großen Orchester brillierten mit anspruchsvoller, komplexer Musik, die Sänger standen immer mehr im Mittelunkt der Arrangements wie auch des Publikumsinteresses, insgesamt richtete sich die generell ruhiger und langsamer gespielte Musik immer weniger an Tanzende.
Sassone war es gelungen, starke Musiker um sich zu gruppieren, sein größter Trumpf aber war der junge Sänger Jorge Casal, dessen Stimme und Art des Intonierens Carlos Gardel, dem Unerreichten, tatsächlich sehr nahe kommen. Gardel selbst vermied es ja zeitlebens mit Orchester oder für Tänzer zu singen, sieht man von wenigen Ausnahmen ab. Und man tanzt nicht zu Gardel. Aber der Paarung Sassone/Casal gelingt es in den Jahren zwischen 1947 und 1949 die emotionale Kraft von Gardels großen Hits wie Volver oder Rencor mit einer durchaus filigran arrangierten Orchesterbegleitung zu kombinieren, die Rhythmus und Melodie fein ausbalanciert. Stilistisch variiert diese Musik zwischen dem Sound Di Sarlis der frühen 40er und den anspruchsvollen Stilen der späten 40er. Die für Sassone typischen Instrumente Harfe und Glasorgel finden in dieser früheren Phase regelmäßig, aber dezent und unaufdringlich ihren Platz.

Sassones Musik dieser ersten Jahre hat wenig mit seinem späteren eher symphonischen auf dem späten Di Sarli aufbauenden Stil zu tun, der als erstes mit ihm in Verbindung gebracht wird. Stattdessen reiht sie sich, abgesehen von den außergewöhnlichen Stimmen, eigentlich in den Mainstream der späten 40er ein. Aber auch die Milonga Sinforosa (11.8.50 - Chanel) ist gut tanzbar.

Nachdem Jorge Casal mit seiner wunderbaren Gardel-Stimme das Orchester verlassen und nicht gerade im Frieden zu Troilo weitergewandert war, gewann Sassone den zwar stimmlich eigenen, musikalisch aber zu den ganz großen zählenden Roberto Chanel, der von 1943 – 1948 dem Orchester von San Osvaldo Pugliese seinen näselnden Stempel aufgerückt hatte. Weitere Sänger waren Carlos Malbran, Raúl Lavalle und Roberto Galé.


Warum tanzen wir nicht zu dieser Musik? Bisher sind die Aufnahmen noch nicht in überzeugender Qualität transferiert. Hoffentlich nimmt sich tangotunes ihrer bald an. Außerdem kann ein DJ nur eine beschränkte Anzahl rhythmisch freierer bzw. ruhiger Tandas spielen. Und Pugliese, späterer Troilo, Francini-Pontier, Laurenz, Demare und viele andere, die in diesem Bereich als Alternative darauf warten, in die Playlisten geschoben zu werden, sind halt auch verdammt gut.


In den Fußstapfen anderer – Sassone entwickelt seinen Stil

Anfang der 50er entwickelte Sassone seinen Stil weiter.
Instrumentale Tangos wie seine Komposition El Relámpago (30.5.1951) oder El Chamuyo (21.11.51) folgen der Di Sarli-Schule. Sie leben von dynamisch und meist unisono gespielten Melodiewellen der Streicher, denen ein dynamisches Klavier, das sich zwar an Di Sarli orientiert, nicht aber dessen Klasse erreicht, Leben einhaucht und dabei auch von den Instrumental-Exoten Harfe und manchmal auch Glasorgel oder Vibraphon unterstützt wird. Teilweise entfaltet Sassones Truppe dabei über einem stabilen rhythmischen Streicher-Fundament brachiale Orchester-Crescendi. Di Sarli ist natürlich eine eigene Klasse. Aber so manches von Sassone wirkt  für mich fast frischer als bei Di Sarli, da man bei Sassone die Instrumente unmittelbarer wahrnimmt wie z.B. im Tango La Guitarrita (13.08.51). Das liegt wohl auch daran, dass Sassone den Bandoneons oder kleinen Geigensoli mehr Platz lässt.
Im April 1953 endete diese produktive Phase. Bis zum Neustart 1959, der mit einem Wechsel von RCA Victor zu Odeón verbunden war, nahm Sassone nur eine Schellack mit den beiden Instrumentalen Canaro und Lágrimas auf, die schon alle Merkmale von Sassones zweiter und wichtigster Phase in sich tragen.

1959 ein neues Orchester - Der Sassone Stil

Sassones Musik der 60er- und 70er-Jahre ist von eigener Qualität, löst aber nicht bei jedem Begeisterung aus.
Den Klang dominierende Melodielinien, oft in Form mächtiger Streicherwellen. Sie liegen über im Grundsatz einfacheren rhythmischen Grundmustern, die aber variantenreich durch Streicher-Pizzicato, Harfenläufe, Klavierakzente, massive Crescendo usw. gestaltet werden. Das ist ähnlich wie der späte Di Sarli. Sassone gibt aber dem Klang der Bandoneons etwas mehr Raum, der Gesamteindruck wird dadurch etwas voller und erscheint weniger rein. Vor allem zwischen 1959 und 1962 wirken die Arrangements durch aufdringliche Klangeffekte von Vibraphon, Glasorgel, Harfe und Schlagzeug teilweise überorchestriert. Fast schon penetrant beginnen in diesen Jahren viele Stücke mit einem Doppelschlag der Glasorgel, wie ein Gong, der den Beginn einer Meditationsstunde ankündigt. Hinzu kommen rasante Läufe des Orchesters, von Instrumentengruppen oder auch von einzelnen Instrumenten wie Harfe oder Klavier, von ganz leise nach ganz laut, von den ganz tiefen zu den ganz hohen Tönen. Das war publikumswirksam. Und so musste sich Sassone immer wieder dem Vorwurf stellen, dass er sich zu sehr am Geschmack der Masse orientieren würde.

Aber vieles dieser Musik ist richtig gut, meist tanzbar, harmonisch anspruchsvoll und trotz des etwas trägen Rhythmus voller Energie.

Aufnahmezyklen
1959 – 1963: viel Glasorgel
1959 nahm Sassone 16 Titel auf, im Oktober dieses Jahren gingen auch seine beiden neuen Sänger, Fontán Luna sowie Andrés Peyró  mit ins Studio. 1960 gelangen nur vier Aufnahmen, unter anderem mit dem Sänger Osvaldo di Santi, der Mitte der 60er und in den 70ern als Osvaldo Ramos bei Juan D’Arienzo seine erfolgreichste Phase erlebt. Erst zwischen August 1962 und Januar 1963 entstehen 14 neue vorwiegend instrumentale, an Di Sarli orientierte Aufnahmen.
1965 – 1968: Musik für die Milonga
In der sehr produktiven Phase zwischen August 1965 und 1968 entstehen mehrere LPs mit insgesamt 54 Tangos, allein 30 zwischen Mai und August 1968. Neben vielen durchaus kräftigen Instrumentalstücken wie Don Juan (31.08.65), El Amenecer, A la gran muneca, Sentimiento gaucho (08.03.66), La tablada (10.03.66) oder Felicia (11.03.66) leihen Oscar Macri, Mario Bustos oder in den 70ern Rodolfo Lemos dem Orchester ihre Stimme.

Kernige Tanzmusik – Sassones Sextet Don Florindo von 1966

Mit seinem Sextett, das 1966 eine Weile parallel zum großen Orchester Bestand hatte, beschritt Sassone einen ähnlichen Weg wie Firpo mit seinem Quartett oder Canaro mit dem Quinteto Pirincho. Ein schnelleres Tempo (67 bis 70 bpm statt der bei Sassone und Di Sarli üblichen 58-60), bescheidenere Arrangements mit den wenigen Instrumenten sowie das Repertoire der Guardia Vieja prägen den Sound, der aber immer noch an Sassone erinnert. Es entstand rhythmische, energiereiche, abwechslungsreiche und gleichzeitig sehr elegante instrumentale Tanzmusik, die aktuell leider am Markt nicht erhältlich ist.

Im Fernsehen

Kommerzieller Erfolg und eine große Fangemeinde zählten in einer Zeit, als weniger getanzt wurde und viele Orchester sich schon längst aufgelöst oder verkleinert hatten. Sassone hingegen trat als einer der ersten mit Osvaldo Ramos (Di Sinta) ab 1960 im Fernsehsender Kanal 7 als wichtigstes Tango-Orchester auf. Hier galt es Bühnen zu füllen, und so vergrößerte er sein Orchester, insbesondere die Reihen der Streicher weiter. 1967 umfasste es sogar 42 Musiker. Ähnlich wie Mariano Mores, Leopoldo Federico oder der späte Fulvio Salamanca strebte Sassone teilweise einen Klang an, der an ein klassisches Symphonie-Orchester erinnert, das jetzt eben Tangos spielt.

Sassone in Japan und Südamerika

Zum ersten Mal bereiste Sassone das tangoverrückte Japan 1966 mit Di Sarlis ehemaligem Sänger Mario Bustos. Während in Argentinien die Tango-Begeisterung schon recht lau war, musste die Konzertreise durch die großen Städte Japans wegen der großen Begeisterung um zahlreiche Konzerte verlängert werden, Sassone trat in Japan sogar im Fernsehen auf und blieb über ein halbes Jahr. Auch zu Beginn der 70er unternahm er erneut eine erfolgreiche Tour durch Japan sowie durch mehrere Länder Südamerikas wie Columbien, Venezuela, Paraguay und Brasilien, wo er überall eine große Anhängerschaft hatte.

Al Colon
Als ganz großen Moment erlebte er, dass er zum gefeierten Konzert der Tangogrößen 1972 im Colon sein Körnchen beitrugen durfte.
„Ha sido una de las mayores satisfacciones de mi vida como músico. Tocar en el teatro más importante de Argentina, aportar mi granito de arena a la fiesta del Tango en este Coliseo maravilloso y compartir con otros grandes del tango esta noche única y tan esperada“.
http://tangosalbardo.blogspot.de/2017/05/florindo-sassone.html




Home

Mein Stil als Tango-DJ

Tangos der frühen 40er, subtil, rhythmisch, elegant, verspielt, faszinieren mich mit ihrer Energie und stehen im Mittelpunkt meiner Musikauswahl, deren erstes Kriterium Tanzbarkeit ist, die ansonsten aber von Abwechslung lebt: Rhythmisches aus den 30ern, Lyrisch-Melodisches, aber auch sorgfältig ausgewählte Musik zeitgenössischer Orchester beleben die Musik. Lustiges, Süßes oder Komplexeres sind die Würze. Tanzen muss Spaß machen.
Dabei bemühe ich mich, die Stimmung und die Komplexität der gewählten Musik von Tanda zu Tanda zu variieren, ohne dabei die Energie und die Dynamik der Tänzer bzw. der Ronda aus den Augen zu verlieren. Jeder Tango, jede Milonga, jeder Vals ist so gewählt, dass er direkt in die Beine geht und die Tänzer lächeln lässt. Die sorgfältig ausgewählten Cortinas unterstützen dabei die Stimmung der Tandas, anstatt sie zu trennen.
Die permanente Suche nach den besten Restaurierungen sowie ein sensibler Umgang mit Lautstärke und Equalizer garantieren einen angenehmen Sound, sodass sich Tänzer auch über Stunden wohlfühlen.
Ich lebe und tanze in München. Den Tango entdeckte ich vor über 20 Jahren, und meine Leidenschaft wächst immer noch weiter. Neben meiner Tätigkeit als TJ schreibe ich als Autor der Zeitschrift Tangodanza unter anderem eine Serie über die großen Orchester der Epoqua de Oro.