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Tango Masters: Carlos di Sarli

Michael Lavocah


 Mit „Tango Masters: Carlos di Sarli“ präsentiert der Londoner Tangohistoriker Michael Lavocah, der seine Leidenschaft für die großen Orchester auch in charismatisch Vorträgen weitergibt, seine dritte bisher nur auf Englisch vorliegende Monografie, die in Qualität und Umfang wieder Maßstäbe setzt.

Lavocah beginnt, und das ist ganz typisch für ihn, mit dem Offensichtlichen: Eine erste Geschichte erzählt vom Unfall in der Jugend, bei dem ein Gewehrschuss Di Sarlis Augen so verletzt, dass er fortan immer Sonnenbrille trägt. Die Geschichte hat Bedeutung. Denn Di Sarli verbirgt zeitlebens nicht nur seine Augen, auch seine Person umgibt stets etwas Unnahbares.

Auf diese erste, optische Annäherung folgt eine musikalische anhand von Di Sarlis vollendetem Spätwerk Bahía Blanca. Geschickt verknüpft Lavocah die Pazifikwellen, die am Strand von Di Sarlis Heimatstadt Bahía Blanca anbranden, mit den für Di Sarli so typischen melodiösen Wellen der Violinen, die das magische Klavierspiel des Señor del Tango einrahmen. Die Ouvertüre ist gespielt, der Leser weiß nun, worauf es bei Di Sarli ankommt, weiß, wo er auf den nächsten gut 200 Seiten hinhören muss.
Gewohnt faktenfest leitet Lavocah durch Di Sarlis Schaffensphasen. Als junger Mann sucht dieser, selbst kein Porteño, sein Glück in Buenos Aires und gründet schließlich ein herausragendes Sextett, nachdem er sich im Windschatten Osvaldo Fresedos einen Namen gemacht hat. Nach längerer Pause kehrt der oft wenig verbindliche Perfektionist 1938 in die erste Liga der Tango-Orchester zurück. Seinen Musikern macht er es oft nicht leicht. Erst recht nicht dem Pop-Star der Combo, dem blutjungen Sänger Roberto Rufino. Mit vielen Details arbeitet Lavokah heraus, wie es zwischen dem unreifen Sängerstar Rufino und dem anspruchsvollen Bandleader, der Rufino aber auch wie ein Vater schützte, knirscht. Sein profundes Quellenstudium erlaubt es Lavocah, vieles mit Originalzitaten zu veranschaulichen, so auch die Konkurrenz zwischen Rufino und dem zweiten Sänger Alberto Podesá.

Am Ende der Kapitel präsentiert Lavocah ausgewählte wegweisende Tangos. Neben Informationen zum Text, Geschichten zu den Tango-Poeten oder den beteiligten Musikern liefert er Höranleitungen und musikalische Analysen. In diesen intimen Auseinandersetzungen mit einzelnen Titeln überschlägt sich seine Begeisterung und Leidenschaft, die Superlative purzeln nur so auf die musikalischen Schätze. Dass in diesen Abschnitten so manche Wiederholung auftritt, liegt auch daran, dass die Monografie hier eher den Charakter eines Handbuches oder Nachschlagewerkes hat. Während man die biografischen Abschnitte auf einen Satz einsaugt, wird man Tiefe und Aussagekraft dieser mit so vielen netten Details angereicherten Songanalysen eher auf einer zweiten oder dritten Reise durch das Buch richtig genießen.

Auch in den folgenden Abschnitten, dazu zählen ein Neustart des Orchesters zu Beginn der 50er beim neuen argentinischen Label Music Hall, oder die Zeit der späten Klassiker nach 1954 bis zu Di Sarlis durch Krebs verursachtem Tod Ende der 50er Jahre, lässt Lavocah neben dem Meister auch Sänger und Musiker lebendig werden, obwohl diesen eine weniger prominente Rolle zukommt als in anderen Orchestern. Denn, das hebt Lavocah immer wieder hervor, es ist das Klavierspiel von Di Sarli, dass dieses Orchester so einmalig macht. Gut gefällt mir, wie Lavocah in diesen Kapiteln die musikalische Entwicklung mit der oft schwierigen geschichtlichen Situation Argentiniens verknüpft.

Der umfangreiche Anhang umfasst unter anderem eine Liste wegweisender Tangos, CD-Empfehlungen, eine vollständige Diskographie sowie eine Übersicht über die Musiker der einzelnen Orchester.
In Qualität, Stil,

Aufbau und Layout setzt Lavocah fort, wofür er in den ersten beiden wegweisenden Bänden der Serie, die sich mit Aníbal Troilo bzw. Osvaldo Pugliese beschäftigen, den Grundstein gelegt hat. Wohl niemand recherchiert aktuell so konsequent und präsentiert das Auffindbare dann in lockeren, schlüssigen Geschichten in mal sachlichem, mal persönlichem, mal engagiertem Ton.