Tangotunes - Die Retter des Tango Argentino
(von Olli Eyding)
Erschienen in Tangodanza 03/2016
Der bestmöglichen originalgetreuen Digitalisierung von
tanzbarer Tango-Musik und damit der Bewahrung des
musikalischen Erbes des Tango Argentino auf höchstem
Niveau haben sich die Mitglieder des
österreichisch-argentinischen Projekts TangoTunes
verschrieben.
Ein Tango-DJ vergleicht in der Regel zahlreiche
CD-Veröffentlichungen eines Tangos, bis er eine Version in
zufriedenstellender Qualität gefunden hat. Mittlerweile sind fast immer TangoTunes, und seit 2020 auch TangoTimeTravel, die erste Wahl, sieht man
von nur schwer erhältlichen japanischen Veröffentlichungen ab.
Das Team von TangoTunes
Gründer von TangoTunes ist Christian Xell, in der Szene
bekannt als Don Xello. Er ist Geschäftsmann, Tänzer, DJ,
Veranstalter von Milongas und er leitet das
Restaurationsprojekt TangoTunes. 2004 begegnete er dem
Tango Argentino und war sofort Feuer und Flamme. Als
ehemaligen Ballett-, Jazz- und HipHop-Tänzer interessierte
ihn natürlich der Tanz, die Musik fesselte ihn aber noch
viel mehr. Diese Begeisterung führte zur Gründung des
Labels und treibt das Team bis heute unverändert an. Denn
auch wenn TangoTunes die restaurierten Digitalisierungen
zum Verkauf im Online-Store anbietet, werden dadurch
Investitionen und laufende Kosten nicht annähernd gedeckt.
Don Xello fasziniert es außerdem, durch das professionelle
Digitalisieren und Archivieren der (Tango-)Welt etwas
Bleibendes zu hinterlassen. Es gibt in Argentinien keine
staatlichen Institute oder Einrichtungen, die mit
vergleichbarem Aufwand und Wissen dem mysteriösen Medium
Schellack alle Geheimnisse zu entlocken versuchen. Somit
füllt TangoTunes als private Initiative diese Lücke.
Seit 2008 verbrachte Christian Xell jedes Jahr jeweils
einige Monate in Buenos Aires und stöberte dort nach
Tangoplatten. Als ihm eine große Sammlung angeboten wurde,
griff er zu, und so kam eins zum anderen. Zusammen mit
Sabine Melnicki und dem audiophilen Hifi-Freak Martin
Haslehner begann er zunächst Schallplatten in Argentinien
zu digitalisieren. Schellacks ließ Tangotunes durch die
argentinische Stiftung TangoVia bearbeiten. Da das Team
mit deren Qualitätsstandards nicht zufrieden war,
digitalisieren sie seit 2014 auch Schellacks selbst.
Es darf knistern
Ein erster Qualitätssprung gelang Anfang 2014 unter
Federführung von Martin Haslehner mit der Veröffentlichung
von 84 Aufnahmen von Angel D’Agostino in bisher ungehörter
Qualität, die auch bei professionellen Audiotechnikern
größte Anerkennung fand. Eines der Geheimnisse:
Weitgehender Verzicht auf digitale Bearbeitung. Zwar
knistert es, dafür kann sich die Musik der Schellack ganz
anders entfalten.
Die Golden Ear Edition
Im Herbst 2014 stieß Christian Tobler aus Zürich zum Team
und hob die Produktionsstandards und das technische Wissen
auf ein bis dato unerreichtes Niveau. Dies gelang vor
allem dank der Verpflichtung des herausragenden Sound
Engineers Andrew Hallifax.
Sechs Monate wurde experimentiert, getüftelt,
ausprobiert. Welche Tonabnehmer passen am besten zu den
Eigenarten der Schellacks, wie sieht eine geeignete
Verstärkerkette aus, welche Möglichkeiten der Bearbeitung
sind möglich, die den Klang nicht verändern. Anhand von
Blindtest-Hörreihen entschied das Team, welche technische
Lösung zum überzeugendsten Ergebnis führt. Das Ergebnis
waren die sogenannte Golden Ear-Editionen: In der Regel
vollständige Sammlungen der tanzbaren Musik der großen
Orquesta típica in bisher ungekannter, dem originalen
Klang möglichst nahe kommender Qualität.
Der Restaurationsprozess
Aufnahmen erfolgten von 1927 bis 1950 im
Direktschnittverfahren. Die Musiker, die in der Regel
mehrmals die Woche in Milongas spielten, versammelten sich
im Tonstudio um meist genau ein Mikrophon. Die Platzierung
im Raum entschied über Präsenz und Lautstärke von
Instrumenten und Sänger. Die Musik wurde von einem
High-Tech-Gerät, das von RCA Victor aus den USA bezogen
wurde, direkt in warmes Wachs geschrieben, das durch
Bedampfen mit einer Metallschicht haltbar gemacht wurde.
Von diesen Mastern nahm man die Formen ab, mit denen
anschließend die Schellacks produziert wurden. Leider
wurden nahezu alle Master Anfang der 60er-Jahren vernichtet,
gut erhaltene Schellacks und Schallplatten sind die
letzten verblieben Quellen.
TangoTunes besitzt mittlerweile über tausende Schellacks und
5000 Schallplatten, Duplikate nicht mitgerechnet, von
denen es teilweise bis zu 200 gibt. Für die meisten der
großen Orchester liegen für die Zeit zwischen 1930 bis
Ende der 40er Jahre vollständige Sammlungen vor. Bei
einigen Orchestern wie Rodríguez oder Donato ist die
Anzahl leider sehr überschaubar. Wie übrigens auch die
Sammlerszene in Buenos Aires: Es gibt rund 20, meist
ältere Sammler, die ihre Begeisterung für die Musik eint,
die aber wenig Sinn für Musik-Restauration, ja nicht
einmal für Schellack-Lagerung oder Ähnliches haben.
Schellacks werden zunächst gereinigt, fotografiert und
anschließend in speziellen Hüllen archiviert. Die Lagerung
erfolgt in Buenos Aires, aber auch in Wien. Die in den
Jahren aufgebaute Datenbank umfasst mittlerweile über
10.000 Datensätze.
Um eine Schellack zu digitalisieren, reicht es nicht, sie
mit hochwertigem Gerät abzuspielen und das Ergebnis in
digitale Daten umzuwandeln. Dies hat mehrere Gründe:
- Bis 1939 war die Grundstimmung der
Orchester etwas tiefer, der Kammerton A lag bei 434 Hz,
erst ab 1940 bei 440 Hz. Viele frühere Digitalisierungen
sind daher zu schnell eingespielt und klingen zu hoch und
gequetscht. Als Restaurator muss man also zunächst den
richtigen Pitch, d.h. die richtige Abspielgeschwindigkeit
finden.
- Die mechanischen Möglichkeiten der
Schellack verlangten gewisse Eingriffe in das Klangbild,
die beim beim Digitalisieren wieder rückgängig gemacht
werden müssen: Tiefe Töne bedingen in der Tonrille einen
großen Ausschlag der Nadel. Um die Rille nicht zu
zerstören und die Übertragung anderer Frequenzbereiche
nicht zu beeinträchtigen, wurden daher tiefe Frequenzen
gedämpft und hohe entsprechend angehoben. Erst um 1950
wurden diese Kurven standardisiert (RIAA). Die richtige
Kurve zu finden ist aufwändig und schwierig. Besonders
kreativ waren die Aufnahmemeister von Pugliese. Um diesem
Problem Herr zu werden, experimentieren die Freaks von
TangoTunes neben vielem anderen sogar mit eigens
konstruierten Röhren-Vorverstärkern. Den extremen
Qualitäts-Anspruch erkennt man auch daran, dass die
Pugliese-Restaurationen von Ende 2015, die für jeden Laien
ein Klangerlebnis sind, noch einmal mit besseren
Parametern und besserer Technik neu veröffentlicht werden
sollen.
- Schellacks knistern leicht. Denn das
Material enthält schleifende Komponenten, um die Nadel in
Form zu halten. Betroffen davon sind vor allem die ersten
zehn bis 15 Sekunden einer Aufnahme. Klanglich schwierig
ist auch das Ende: Der Tonarm läuft in schlechterem
Winkel, gleichzeitig reizt das klangliche Finale vieler
Instrumente die Möglichkeiten der Schellackrille bis zum
Anschlag aus, große Verzerrungen sind unvermeidbar.
Üblicherweise wurden all diese Fehler standardisiert mit
Filterprogrammen entfernt, denen viele Klangdetails, oft
aber auch die ganze Musik zum Opfer fielen. Für die Golden
Ear Editionen verzichtet TangoTunes vollständig auf
automatisches Filtern und entfernt Kratzer und Knistern
nur manuell.
Das Ergebnis all dieser Bemühungen: Haute Cuisine statt
Fast Food. Eine musikalische Umarmung statt verzerrtes,
aufdringliches Scheppern. Stimmen klingen natürlich und
schweben im Raum, der Bass ist präzise aufgelöst, die
einzelnen Instrumente hüpfen klar unterscheidbar aus dem
Orchesterklangbild heraus, die Aufnahmen haben einen viel
größeren Dynamikumfang als die bisher auf CD gepressten.
Wer diesen Hörgenuss einmal gekostet hat, gibt sich mit
üblichem Tango-Konserven-Futter nicht mehr zufrieden. Das
leichte Knistern geht in diesem musikalischen Feuerwerk
schnell unter.
Jeder kann sich selbst davon überzeugen. D’Agostino,
D’Arienzo, Calo, Pugliese, Tanturi und viele andere stehen
auf www.tangotunes.com als Hörprobe bereit, die Tangos
können einzeln für 1,49 Euro oder im Rahmen von
Zusammenstellungen etwas günstiger erworben werden. Die
Produktion von CDs ist geplant. TangoTunes hat eine große
Fan-Gemeinde und zahlreiche Käufer verdient.
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