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Das Lachdach Pling in München

(2019/aktualisert 2022)


Das Penthouse


21.30 Uhr
Die leere Garderobe einer mäßig besuchten kleinen Vorstadt-Milonga in München/Neuhausen.

Das ist typisch für München. Irgendwie gibt es mehr Tanzgelegenheiten als Tänzer.

Ein distinguiertes japanisches Paar blickt sich suchend um.

Es ist ihr einziger Abend in München, und heute ist Donnerstag. Wir sind uns sofort einig. Diesen Abend müssen die beiden beim Argentinier Esequiel Maiolo und seiner Frau Sol Evans im Lachdach verbringen, einer der angesagtesten Milongas, aber in einem Hinterhof versteckt, zu kompliziert, um einem Taxifahrer den Weg zu erklären.

So kutschieren wir die beiden selbst an der Isar entlang Richtung Süden, folgen einer Seitenstraße und landen in einer Kette industriell geprägter Hinterhöfe.

Nun wird der kosmopolitische Japaner, der, wie sich im interessanten Gespräch herausstellt, die Auftritte der Münchner Symphoniker in Buenos Aires organisiert, doch unsicher: „This isn‘t a street, is it?“.

Erst als er Schuhbeutel entdeckt, die neben etwas zu bunten, schicken Röcken auf eine unbeschriftete Glastüre zuschweben, lächelt er wieder zuversichtlich.

Sechs lange Treppen testen unsere Kondition, und erst am Ende eines langen Ganges gleiten wir durch eine Feuerschutztür von der gesichtslosen Architektur der Siebziger hinüber in das weite, von warmem Licht durchflossene Penthouse, dem Reich von Veronica Hoffmann und Martin Siegler. Die beiden (Lebens-)Künstler, die seit vielen Jahren Räume für Seminare und Events betreiben, stellen sich mit Kreativität, Entschleunigung und außergewöhnlichen Formen tänzerischer Begegnung der Kapitalisierung, Rationalisierung und Ressourcenverschwendung unserer Welt entgegen. Dementsprechend erobern alte Sessel und Sofas, Bänke aus Wartesälen, erstaunliche Lautsprecher-, Tisch- und Lampenkonstruktionen und aus Restmetallen erstellte Raumtrenner als erstes die Aufmerksamkeit neuer Besucher. So manches hat Hausherr Martin selbst aus recycelten Materialien und Formen entworfen und konstruiert. Charme, Funktionalität und Provisorium geben sich vielfach genial die Hand.

All dies ergibt sich aus ihrer Lebensphilosophie, die dem Prinzip der Selbstorganisation folgt.

Anstatt Strukturen zu setzen, sehen sich beide der Idee der Autopoietik nach Umberto Maturana verpflichtet und arbeiten entsprechend mit dem, was vorhanden ist, mit dem, was sich ergibt.

Und so fand auch der Tango zwar eher zufällig ins Lachdach, aber die magischen Momente, die für drei Minuten zwischen zwei Menschen oder sogar innerhalb einer ganzen Ronda entstehen, passen sehr gut zur Idee des „autopoietischen Wunders“, das, so Maturana, in bewegenden Systemen entstehen kann.


Tango argentino mit Esequiel Maiolo und Sol Evans

Divina Milonga von und mit Sol und Esequiel beginnt zu recht später Stunde um 21.30 Uhr, doch der sehr angenehm zu tanzende, schwarze Holzboden füllt sich trotz der Raumgröße immer schnell, oft, wenn auch nicht immer, entsteht eine schöne zweireihige Ronda.

Schon seit vielen Jahren überlässt Esequiel das DJ-Pult immer wieder international agierenden DJs, Aber auch die angesagten Münchner DJs, allen voran der fast zum Inventar zählende Christoph Grohs, der mit fantastischem Sound und ausgewogener Musikauswahl überzeugt, gestalten abwechslungsreiche, traditionelle Tanzabende, die erst morgens nach 1.00 Uhr in der verwinkelten Garderobe neben dem Ausgang ausklingen.

Zu spät für uns, aber gerade recht für unsere japanischen Gäste, die nach einem wunderbaren Abend von einem Münchner Tanguero wieder in ihr Hotel gefahren wurden.

Cabeco und verbales Auffordern halten sich in dieser Kathedrale des traditionellen Tango die Waage.

Zum einen kennt man sich. Zum anderen ist der Raum etwas dunkler und nicht ganz übersichtlich, "Man muss wandern", so eine Tanguera, möchte man seine Lieblingstänzer erwischen, weiß aber, wo sie sitzen, denn viele Stammgäste haben eine innige Beziehung zu ihrem Lieblingssitzmöbel aufgebaut.

Nahe des DJ-Pults sammeln sich in München lebende Argentinier, andere Tanzlehrerpaare sowie besonders gute Tänzer oder die, die sich dafür halten.

Ins Lachdach kommen Menschen aus allen Szenen und Tangoschulen Münchens. Aber auch von außerhalb, aus Augsburg oder dem Chiemgau, reisen Fans regelmäßig an. Viele gute und sehr gute Tänzer, die sonst zum Leidwesen der Münchner Veranstalter Marathons und Encuentros den heimischen Milongas vorziehen, kratzen ihre Moulinetten und schnellen Tippelschritte auf die schwarzen Dielen.

Der Gastgeber

Seit nunmehr elf Jahren unterrichtet Esequiel von Anfängerkursen bis zur Master Class, die jeweils donnerstags vor der Milonga stattfindet, alle Niveaus, anfangs zusammen mit der Begründerin des Tango im Lachdach, Martha Giorgi, dann zusammen mit Sol. Ese, wie ihn die meisten nennen, der mittlerweile fast fließend Deutsch spricht, begrüßt seine Gäste herzlich, viele kennt er persönlich.

Esequiel lebt für den Tango, und er lebt vom Tango, von Kursen, Privatstunden und den Erlösen der Milongas.

Und er scheut nicht das finanzielle Risiko, Liveorchester wie El Cachivache und Tango en Vivo oder den Sänger Guillermo Fernández einzuladen. Und auch die ganz großen Tanzpaare wie Lucilla Cionci und Joe Corbata, Ezequiel Paludi und Geraldine Rojas oder Vertreter der jungen Generation wie Clarisa Aragón und Jonathan Saavedra, die Ende März 2019 im Lachdach zu Gast sind.

Und da es Esequiel gelungen ist, seine beiden Söhne für Tango zu begeistern, bietet er seit einem Jahr auch einmal im Monat gut besuchte Kurse für Kinder und Jugendliche an.
Im Februar 2022 übergab Ese das Lachdach an den mit viel Argentinidad ausgestatteten Italiener David Duddi Mancini, der das Lachdach im Sinne der Gründerin, der Argentinierin Martha Giorgi, zusammen mit der Französin Salomé Formenteil, seiner aktuellen Tanzpartnerin, weiterführen wird.

Non-Tango – Contango – Tanzrituale und sehr viel mehr.

Der Tango hat im Lachdach mittlerweile drei bis vier Abende für sich erobert.

Fast noch wichtiger sind Veronica und Martin aber progressivere Tanzformate, die außergewöhnliche Interaktionen zwischen Musik, Tänzern, Live-Musikern und Licht ermöglichen, teilweise in Form von Ritualen stattfinden und dem Ausloten unbekannter Bewegungsmuster und damit „autopoetischen Wundern“ Raum verschaffen.

Neolonga

Eine Schnittstelle zwischen den traditionellen Tangotänzern und der freieren Tanz-Szene stellt Esequiels Neolonga am Montag dar. Rund 50 Gäste nutzen in warmer, offener Atmosphäre den weiten Raum. Wechselnde Djs, allen voran Jochen Lüders, der dieses Format vor drei Jahren mit iniziierte, mittlerweile aber nicht mehr auf so viel Resonanz stößt,, Sabine La Sonrisa aus Freising, Roberto Diaz, aber auch Esequiel selbst kombinieren traditionellen Tango mit Elektronischem, Weltmusik, Klassikern des Non-Tango und tanzbarer aktueller Popmusik. Mancher bewegt sich alleine, einige Paare treiben in weniger orthodoxen Formen übers Parkett, doch wir sind beim Tango Argentino, wenn auch mit stärker variierender Tanzhaltung und insgesamt weniger kontrollierten Bewegungsmustern.

Contango bzw. Contact-Tango

Zwar gilt Tango argentino wegen seines regelmäßigen Partnerwechsels und des Miteinanders der Paare in der Ronda als besonders sozialer Tanz, dieses Bild verblasst aber gegenüber den „Contango“-Nachmittagen und Abenden im Lachdach, deren Charakter ein viel intensiveres soziales Miteinander ermöglicht als eine übliche Milonga, von den Teilnehmenden aber auch mehr Entgrenzung und Offenheit verlangt.
Auch wenn der Tango Bewegungsmuster und Schritte, die Achtsamkeit oder die Orientierung an der Musik beisteuert, überwiegen insgesamt die Einflüsse aus der Kontaktimprovisation: Im Flow der Musik finden und trennen sich Paare, bilden sich Dreier- und Vierergruppen, erkunden Körper neue Bewegungsmuster, schweben durch den Raum oder bilden Konstellationen am Boden. Alle scheinen im Fluss der Musik miteinander verbunden. Wenn sich die Contangueros einmal im Monat sonntags zu den Takten einer Live-Combo bewegen, deren Musiker selbst immer wieder tanzend an diesem Ritual bzw. Happening teilnehmen, findet genau die Symbiose verschiedenster kreativer Energien statt, die sich Veronica und Martin für ihr Lachdach wünschen und die diesem Raum so eine besondere Atmosphäre schenken.

Lachdach Pling, Steinerstr. 5, 81369 München
http://www.lachdach-pling.de/