Gesang im Tango Argentino |
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Um 1900 war Tango rein instrumental gespielte Tanzmusik,
so wie Polka, Walzer oder Habanera.
Tango CanciónDas Jahr 1917 markiert den Beginn des Tango Canción.
Carlos Gardel sang Mi Noche triste, den
ersten Tango, bei dem der Text voller Melancholie und die
Musik passend zum Text komponiert worden war.
Dichtung und Poesie waren von nun an fester Bestandteil
des Weltkulturerbes Tango, die Schwermut und
Tiefgründigkeit dieser Texte traf offensichtlich den Nerv
der Zeit. Der Tango Canción, meist von Gitarristen begleitet,
eroberte Argentinien und ist bis heute ein fester Teil der
Tangokultur. Getanzt wurde und wird zum Tango Canción in der Regel
nicht. Ein beeindruckendes Dokument dieser Kultur schuf der Regisseur Germán Kral mit seinem ersten Tangofilm Der letzte Applaus (2008).
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Adriana Varela (*1952) galt in den
Siebzigern als stärkste Stimme.
Heute rangiert Lidia Borda, die oft gemeinsam mit ihrem Bruder und Gitarristen Luis Borda auftritt, unter den ersten.
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Mano a Mano (2012 ?)
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Der Estribillista oder Refrainsänger Es war der stets experimentierfreudige Tango-Pionier Francisco Canaro, der seine Tanzmusik im Jahr 1924 belebte,
indem er eine der Refrain-Strophen singen ließ. Die Sänger
der Refrains nannte man Estribillista. Sie
hatten zunächst wenig Bedeutung, oft druckte die
Plattenfirma ihre Namen nicht einmal auf das Label der
Schellack. Es sang, wer zur Verfügung stand. So war einer
dieser Estribillisten Canaros Bandoneonspieler – ja genau,
Troilos späterer Gesangsstar Francisco Fiorentino, der
heute als der Orchestersänger schlechthin angesehen wird.
Die Estribillistas hatten es nicht leicht. In der Regel
spielte das Orchester mit gleicher Lautstärke weiter, die
Sänger mussten sich für 30 Sekunden gegen die Musiker und
den Lärm der Ballhäuser durchsetzen.
Nachdem Canaro 1927 einen der damals populären
Best-Tango-Wettwerbe mit einem Tango mit Gesangsduo
gewonnen hatte, stellten nach und nach die meisten der
anderen Orchester ebenfalls zwei Sänger ein. Zu Beginn der
30er-Jahre erlangte Charlo, der schon als Solist
einen Gardel-ähnlichen Ruhm erlangt hatte, die größte
Popularität als Estribillista. Er sang gleichzeitig für
Francisco Canaro, Francisco Lomuto und Adolfo Carabelli.
Bedeutende Estribillistas um 1930 waren Ernesto Famá
(Di Sarli, Canaro) und Agustín Irusta (Canaro)
Canaro, der keine Verdienstmöglichkeit ausließ, nahm oft genug die neuen Tangos mit Charlo zweimal auf: als nicht tanzbaren Canción mit vollständig gesungenem Text sowie als tanzbare Version, in der nur die Strophe gesungen wurde. Die zunehmende Beliebtheit der Estribillistas führte dazu, dass sie von der Plattenindustrie ernster genommen wurden und mit ihnen geworben wurde. Hier und da sangen sie nun auch den vollständigen Text. Insbesondere Roberto Ray im Orchester Fresedo und Roberto Maida mit Canaro ebneten mit umfangreicheren Gesangspassagen den Weg zur nächsten Etappe, dem Cantor de Orquesta, also dem Orchestersänger. |
Cuando Vuelva (1932)
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Der Cantor de Orquesta Spätestens um 1940 erhielten die Sänger in den meisten
Orchestern mehr Raum und stiegen zu Stars auf. Die Liste der Namen wäre lang: Alberto Echagüe
bei Juan D’Arienzo, Roberto Rufino bei Carlos Di
Sarli, Ángel Vargas im Orchester von Ángel
D’Agostino, Alberto Castillo und Enrique
Campos bei Ricardo Tanturi, Alberto Podestá
bei Di Salri und Miguél Caló, und natürlich die
besonders herausragende Paarung Francisco Fiorentino im
Orchester Aníbal Troilo. Der Cantor de Orquesta sang eine oder zwei
Strophen oder auch den ganzen Text und verschmolz
musikalisch mit den übrigen Instrumenten. Insbesondere
Troilo trieb zusammen mit seinen Musikern und Arrangeuren
diese Entwicklung voran. Die Sänger lebten die Texte förmlich mit und zelebrierten
sie expressiv mit allen Stimmungen und Gefühlen.
Große Dichter Auch die Qualität der Texte erreichte einen neuen
Höhepunkt: Neu war, dass diese Tangopoeten mit Komponisten wie z.B.
Aníbal Troilo oder Domingo Federico eng
zusammenarbeiteten, wodurch Musik und Gesang noch enger
aufeinander abgestimmt werden konnten.
Die Tangotexte werden zensiert Eine wenig erfreuliche Zäsur erlitt die Tangowelt ab
Mitte 1943: Lunfardo war ein Slang der Vorstädte mit ihren
Bordells und halbseidenen Compadritos. Diese Gaunersprache
unterstrich die Verbundenheit mit Buenos Aires bzw. dem
jeweiligen Viertel, dem Arrabal. Das autoritäre, rechtsgerichtete Regime, das 1943 die
Macht übernommen hatte, pochte auf Moral. Jegliche
Verwendung von Lunfardo wurde verboten. Zahlreiche Tangotexte und Titel mussten umgetextet
werden, aber auch anrüchige Inhalte wie Sex, Drogen,
Alkohol oder Kriminalität waren von nun an in der
Öffentlichkeit verboten. So mancher Song wurde neu
aufgenommen, damit er im Radio gespielt werden konnte. Der Sänger als StarIn der zweiten Hälfte der 40er schlugen viele erfolgreiche Sänger eine Solo-Karriere ein. Auch wenn diese Aufnahmen sehr populär waren, in der
Milonga hört man sie selten. Einerseits richtet sich die Orchesterbegleitung nicht
mehr an Tanzende, andererseits gestalten die Sänger den
Gesang rhythmisch so frei, dass Tangueros darin nur wenige
anregende, musikalische Strukturen finden.
CharakterstimmenSängerstars wie Edmundo Rivero, Roberto
Goyeneche, Argentino Ledesma oder Julio
Sosa hielten den Tango mit ihren charaktervollen
Stimmen in Zeiten des Niedergangs nach Mitte der
50er-Jahre am Leben.
Vorwiegend in dieser Form überlebte der Tango im Radio, im Fernsehen und in konzertanter Form die mageren Jahre zwischen 1955 und der Renaissance des Tango seit den 80er-Jahren. |
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Zum Nachhören:Fünf Versionen von CicatricesCicatrices (Narben), 1925 für Carlos Gardel komponiert, besingt die wonnevollen Wunden, die Leben und Liebe hinterlassen. |
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